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Reise in die Ukraine
Eindrücke aus Frankfurts Partnerstadt Lviv
Anfang Oktober reiste eine Frankfurter Delegation in die ukrainische Partnerstadt Lviv. Abraham de Wolf, Vorsitzender des „Freundeskreis Frankfurt und Lviv“, war dabei und berichtet exklusiv für das JOURNAL.
Die Reise wird wegen der Raketen um einen Tag verkürzt. Sie ist vollgepackt mit intensiven Einblicken in die Stadt Lviv. Eine moderne Stadt, inmitten des Krieges, mit schwerstverwundeten Soldaten, Frauen und Kindern, Beerdigungen und der fortwährenden Bedrohung durch weitere Raketen; schon 120 Gebäude sind getroffen worden. Eine Stadt der schönen Bauten aus der Zeit der Habsburger Herrschaft in der Stadt Lemberg. Seit Mai existiert die neue Städtepartnerschaft zwischen Frankfurt und der ukrainischen Stadt Lviv.
Anfang Oktober findet die erste Reise des Oberbürgermeister Mike Josef (SPD) mit der Dezernentin Eileen O’Sullivan (Volt) statt. Begleitet werden sie von einer Delegation von Stadtverordneten der SPD, CDU, Grünen, FDP und Volt sowie einer Reihe von Personen Frankfurter Initiativen, die sich solidarisch für die Ukraine engagieren. Mit dabei ist auch der Vertreter der Frankfurter Zoologischen Gesellschaft, die sich seit Jahren intensiv von Lviv aus um den Naturschutz in den Karpaten kümmert. Die Reisegruppe fliegt zunächst ins südpolnische Krakau, ebenfalls eine Partnerstadt Frankfurts. Von dort geht es am Sonntag fast sechs Stunden im Bus mit einer Sicherheitsbegleitung nach Lviv.
Die Autobahn ist der schnellste Weg nach Lviv
In der Geschichte der frühen Industrialisierung verband die Städte Krakau und Lemberg ein scharfes Konkurrenzverhältnis. Noch in der Zeit des polnischen Königreiches traten sie als reiche und selbstbewusste Handelsstädte auf, auch gehörten sie zu den frühen Universitätsstädten der europäischen Moderne. Beide wurden jedoch Opfer des Wiener Imperialismus gegenüber Polen bis 1918. Lemberg stellte zeitweilig die viertgrößte Stadt im Habsburger Reich. In beiden Städten spielte die Revolution von 1848 eine wichtige Rolle. (Das wäre übrigens auch ein Thema für die Frankfurter Städtepartnerschaften mit Krakau und Lviv, wurde doch von fortschrittlichen Abgeordneten in der Paulskirche das Verhältnis zum von Preußen kolonisierten Teil Polens kritisch thematisiert.)
Heute bildet Krakau durch die von der EU finanzierte Autobahn das Tor zur Ukraine. Sie ist der schnellste Weg nach Lviv, da der Flugverkehr nicht mehr möglich ist und die Alternative, eine Zugfahrt mit Umsteigen mitten in der Nacht, deutlich länger dauert. Spätabends am Sonntag in Lviv angekommen, fährt der Bus durch die Stadt zum Hotel, vorbei an hell erleuchteten kleinen Supermärkten, die noch offen sind. Wir fahren an der Oper vorbei, die sehr an die Alte Oper in Frankfurt erinnert, mit großer Grünanlage davor, und sehen viele junge Männer und Frauen unterwegs, chic gekleidet. Mindestens fünf Essenskuriere mit dem typisch quadratischen Gepäck auf dem Rücken, flitzen auf Scootern oder Fahrrädern, eins davon Electro, uns entgegen oder am Bus vorbei.
Im Hotel angekommen, wird über die Sicherheitsvorkehrungen informiert
An der Rezeption im Hotel, jeder zahlt seinen Aufenthalt selbst, achten unsere Sicherheitsbegleiter sorgfältig auf die Zimmernummer der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, damit, falls es einen Raketenalarm in der Nacht gibt, geprüft werden kann, dass es auch alle zum Safe Room geschafft haben. Wenn nicht, würden kräftige Sicherheitsleute sie aus den Zimmern holen. Das Hotel ist eine elegante, ehemalige K.u.K.-Bank, die bis in die Sowjetzeit als solche genutzt wurde; der Bunker ist ein ehemaliger Tresorraum. Die Anweisung ist klar: Bei Alarm darf natürlich nicht der Lift benutzt werden, sondern wir müssen durch das goldverzierte Treppenhaus hinunterlaufen.
Nachdem ich kurz Mantel und Rucksack aufs Bett geworfen habe, geht es runter zum Empfang des Oberbürgermeisters von Lviv, mit einer Vielzahl von jungen städtischen Beamtinnen und Beamten und anschließend einem gemeinsamem Essen bei gutem Wein. Bevor gegessen wird, erteilt der anwesende Priester auf Bitten des OBs von Lviv einen Segen auf ukrainisch. Die Frankfurter, als Vertreter einer Stadt des ernsthaften interreligiösen Dialogs, haben kein Problem damit. Das Essen begeistert.
Morgens in aller Frühe, kaum ist es etwas hell, gehe ich auf den Balkon zum Fotografieren und sehe einige Soldaten auf dem gegenüberliegenden Balkon. Sie stehen vor ihrem Büro mit Kaffeetasse und Zigarette. Der Tag beginnt, die Nacht war ruhig. Nach einer viel zu kurzen Bewunderung der famosen Dachlandschaft geht’s runter zum Frühstück und um 8 Uhr fängt das vollgepackte Tagesprogramm an, das mit unserer Rückfahrt nach Krakau um 20 Uhr enden wird.
Wir fahren in einem kleineren Bus durch die wunderschöne Altstadt, vor uns eine moderne Straßenbahn, zu einem sowjetischen Plattenbau-Viertel, vorbei an städtischen Bussen der indischen Firma Tata, die seit der Sowjetzeit hier ihre Linien fahren.
Erster Programmpunkt: das Krankenhaus für schwerverwundete Soldaten und Zivilpersonen
Unser erster und bedeutendster Programmpunkt ist im Außenbezirk, im wichtigsten Krankenhaus der Ukraine, wo schwerverwundete Soldaten und Zivilpersonen, also Frauen, Jugendliche und Kinder, operativ behandelt werden und mit einer Prothese wieder das Laufen oder Arm- und Handbewegen lernen. Nicht wenige haben bis zu 40 Operationen durchmachen müssen, damit sie noch halbwegs weiterleben können, irgendwie. Geleitet werden wir vom Chefarzt, der uns durch die Gänge führt und uns immer wieder in ein Zimmer zieht, um das Schicksal eines Patienten, mit dessen Zustimmung, zu erläutern.
An uns vorbei gehen Männer ohne Bein oder Fuß mit Gehhilfen. Auch ein junger kräftiger Mann mit Vollbart und Krater im Gesicht, wo früher das Auge war, wird an uns vorbei im Rollstuhl von einer Pflegerin geschoben. In einem Gymnastikraum sehen wir eine ältere Frau, die lernt, den Arm wieder zu bewegen und Männer die Handübungen machen oder versuchen ein Bein zu strecken. In den Räumen mit offener Tür sehen wir auf engem Raum vier Betten. Manchmal liegt darin ein Mann ohne Beine, oder ohne Arme, auf die Decke starrend oder über Kopfhörer Musik hörend. Behandelt werden auch Soldaten, die von den Russen gefangen genommen und schwer gefoltert wurden. Sie sind nach einer längeren Zeit des Horrors im Austausch für gefangene russische Soldaten freigekommen.
„Unbroken“ – Krankenhaus tut alles, dass die Menschen vom russischen Terror nicht gebrochen werden
Das Krankenhaus mit der Reha und psychischer Nachbehandlung nennt sich „unbroken“. Es tut alles dafür, dass die Menschen vom russischen Terror nicht gebrochen werden. Schon vor dem gegenwärtigen Krieg war es ein Zentrum für Hirn- und Rücken-Operationen. Da die Stadt relativ wenig beschossen wird, wurde das Krankenhaus Anfang des Jahres renoviert und ausgebaut. Inzwischen ist es zum nationalen Krankenhaus für Schwerverletzte umgewidmet, hat knapp 2000 Patientinnen und Patienten und baut einen zusätzlichen Flügel für weitere 1000 Betten. Demnächst soll noch ein Krankenhaus in der Nähe, finanziert vom Samsung Konzern, gebaut werden. Durch gezielte Angriffe hat Russland bislang etwa 150 Krankenhäuser in der Ukraine zerstört. Der Bedarf nach hochspezialisierter Behandlung von Schwerverletzten ist enorm und wird noch Jahre bleiben. Die Ärzteschaft arbeitet eng mit Spezialisten aus den USA und Israel zusammen.
Hunt: „Inzwischen geht es nicht mehr darum zu töten, sondern schlimmste Verwundungen zuzufügen, um die medizinischen Ressourcen des Feindes zu erschöpfen“
Wenige Tage nach der Rückkehr nach Frankfurt lese ich in der FAZ einen Aufsatz von Howard Hunt, einem australischen Schriftsteller und Rettungssanitäter in Charkiw. Es geht um die zunehmende Brutalität des Drohnenkrieges der Russen. Hunt schreibt über „thermobarische Sprengköpfe, transportiert von billigen chinesischen FPV-Drohnen“, die „mit hoher Präzision treffen. Bei der Explosion wird der Luft Sauerstoff entzogen, und es entsteht ein Feuerball, der alle Objekte im Umkreis verbrennt. Die Drohnen werden von Drohnenpiloten direkt in die Stellungen der Ukrainer gesteuert. Mit grauenhaftem Ergebnis“. – „… Inzwischen geht es nicht mehr darum zu töten, sondern schlimmste Verwundungen zuzufügen, um die medizinischen Ressourcen des Feindes zu erschöpfen.“
Solche Zerstörungen des Körpers, auch durch die Folter, verursachen nicht „nur“ tiefe körperliche Schäden, die das Leben radikal verändern, sondern auch tiefe Traumata, also psychische Schäden. Deshalb hat das Krankenhaus eine Psychologische Abteilung integriert. Ihr Leiter betont, dass die Psychiatrie als Ort jahrzehntelangen Missbrauchs in der Sowjetunion, als besonders grausames Gefängnis für oppositionelle Intellektuelle galt. Deshalb haben Psychologie und Psychiatrie immer noch einen schlechten Ruf in der Ukraine. Die psychischen Folgen der Verwundungen werden mitbehandelt, indem sie von vornherein in den Heilungs- und Reha-Prozess integriert sind. Die Kapazitäten reichen leider nur so weit, dass gegenwärtig nicht mehr als etwa die Hälfte der Patienten psychologisch geholfen werden kann.
Folter: Trauma führt typischerweise zu Selbstisolation und Aggression gegen sich selbst und andere
Die Behandlung ist besonders bei Gefolterten wichtig, da das Trauma typischerweise in die Selbstisolation führt und Aggression gegen sich selbst und andere auslöst. Als besonders wirksam hat sich bei dieser komplexen Thematik eine Kunsttherapie erwiesen, die mit amerikanischen und israelischen Psycholog/innen immer weiterentwickelt wird. Innerhalb von wenigen Tagen wirkt sich diese Therapie auf gefolterte Männer aus. Sie beginnen aus dem tiefen Gefühl der Isolation mit Reden und Lächeln herauszutreten. Im Prinzip lässt sich schon am ersten gemalten Bild ablesen, welche Therapie beim jeweiligen Patenten sinnvoll ist.
Die Trauma-Therapie von Gefolterten wird auch mit der Beobachtung von Veränderungen im Gehirn begleitet, da festgestellt wurde, dass Folter Folgen im Gehirn hat. Sehr beindruckt, teilweise schockiert, verlassen wir das Krankenhaus, nachdem OB Mike Josef dem Leiter des Krankenhauses Unterstützung aus Frankfurt für den Ausbau von „unbroken“ zugesagt hat. Auf jeder Etage ist ein Hinweisschild, wer bei der Einrichtung der Etage besonders geholfen hat. Auffallend ist das Engagement der Stadt Freiburg, die wie Würzburg, schon länger eine Städtepartnerschaft mit Lviv verbindet. Direkt im Anschluss fuhren wir etwas weiter und besuchten das mit deutschen Entwicklungsgeldern finanzierte neue Gebäude, in dem moderne Prothesen für Soldaten und Zivilpersonen hergestellt werden.
Die Leichenwagen fahren langsam durch die Stadt zum Friedhof
Danach gehen wir wieder zurück in die Altstadt, zum Rathaus von Lviv. Nach einer Besichtigung des Safe Rooms und der Fluchtwege in diesem Altbau geht es ins Büro des Oberbürgermeisters. Dort schreibt sich Mike Josef für Frankfurt ins Goldene Buch ein, es werden nette symbolische Geschenke ausgetauscht. Mike Josef erhält ein Symbol für „unbroken“ und der OB von Lviv eine kleine „Paulskirche“.
Anschließend gibt es ein Mittagessen im Café des Rathauses, dann gehen wir zu Fuß zu einer Kirche, wo eine Messe für zwei gefallene Soldaten gehalten wird. Wir kommen verspätet an, stehen deshalb draußen, als Priester mit Kreuz und Soldaten mit den Särgen, gefolgt von den Familien aus der Kirche schreiten und die Särge in den Leichenwagen schieben. Begleitet wird das Hinaustragen der Särge von einer militärischen Blaskapelle. Die beiden Oberbürgermeister und die Dezernentin O’Sullivan bekunden mit ihrer stillen Haltung am offenen Leichenwagen ihren Respekt für das Opfer der Soldaten. Die Leichenwagen fahren dann mit Blaulicht-Begleitung und Anteilnahme der Bevölkerung langsam durch die Stadt zum Friedhof.
Nachdem wir wieder beim Rathaus ankommen und in den Bus steigen, fahren wir im Dauerregen zu einem Außenbereich der Stadt und besuchen einen Soldatenfriedhof an einem kleinen Wald. Gegenwärtig sind etwa 30 000 Männer und Frauen aus Lviv an der Front und bislang etwa 1000 Männer und Frauen gefallen. Dieser besondere Friedhof ist leider am Wachsen.
Es geht Russland eindeutig darum, ukrainische Zivilisten zu töten
Anschließend fahren wir in eine reine Wohngegend in der Innenstadt. Hier ist noch vor wenigen Wochen, am 4. September, um viertel vor sechs Uhr morgens eine Rakete in Begleitung von Drohnen der russischen Armee gezielt auf ein Wohnhaus geflogen. Weit und breit gibt es keine militärische Anlage. Es geht Russland eindeutig darum, ukrainische Zivilisten, die um diese Uhrzeit im Bett liegen, zu töten. Zwei obere Stockwerke des Hauses wurden zerstört; es starben dadurch eine Mutter mit drei Kindern und drei weitere Bewohner. Der Vater der getöteten Kinder war gerade kurz aus dem Haus gegangen und überlebte dadurch. Dieser Angriff hatte die erhöhten Sicherheitsmaßnahmen für unsere Reise zur Folge und leider auch, dass die Reise, zur Reduzierung des Risikos um einen Tag verkürzt wurde. Die ursprünglich geplanten Besuche einiger der vielen Kultureinrichtungen in Lviv fielen zu unserem Bedauern aus.
Zwei dieser Einrichtungen sind jedoch mittlerweile Partner des neugegründeten „Freundeskreis Frankfurt und Lviv“, um gemeinsam einen kulturellen Austausch mit Lviv zu fördern.
Nach einem Besuch eines katholischen Waisenhauses für Jungen mit angeschlossenem Lehrbetrieb für einige Handwerksberufe, geht es am Abend in der Dunkelheit mit dem Bus nach Krakau zurück. Irgendwann auf der Strecke kommt uns ein kleiner Konvoi von Lastwagen mit aufgeladenen Panzern entgegen.
Info
Zur Person: Abraham de Wolf ist Vorsitzender des „Freundeskreis Frankfurt und Lviv“.
Anfang Oktober findet die erste Reise des Oberbürgermeister Mike Josef (SPD) mit der Dezernentin Eileen O’Sullivan (Volt) statt. Begleitet werden sie von einer Delegation von Stadtverordneten der SPD, CDU, Grünen, FDP und Volt sowie einer Reihe von Personen Frankfurter Initiativen, die sich solidarisch für die Ukraine engagieren. Mit dabei ist auch der Vertreter der Frankfurter Zoologischen Gesellschaft, die sich seit Jahren intensiv von Lviv aus um den Naturschutz in den Karpaten kümmert. Die Reisegruppe fliegt zunächst ins südpolnische Krakau, ebenfalls eine Partnerstadt Frankfurts. Von dort geht es am Sonntag fast sechs Stunden im Bus mit einer Sicherheitsbegleitung nach Lviv.
In der Geschichte der frühen Industrialisierung verband die Städte Krakau und Lemberg ein scharfes Konkurrenzverhältnis. Noch in der Zeit des polnischen Königreiches traten sie als reiche und selbstbewusste Handelsstädte auf, auch gehörten sie zu den frühen Universitätsstädten der europäischen Moderne. Beide wurden jedoch Opfer des Wiener Imperialismus gegenüber Polen bis 1918. Lemberg stellte zeitweilig die viertgrößte Stadt im Habsburger Reich. In beiden Städten spielte die Revolution von 1848 eine wichtige Rolle. (Das wäre übrigens auch ein Thema für die Frankfurter Städtepartnerschaften mit Krakau und Lviv, wurde doch von fortschrittlichen Abgeordneten in der Paulskirche das Verhältnis zum von Preußen kolonisierten Teil Polens kritisch thematisiert.)
Heute bildet Krakau durch die von der EU finanzierte Autobahn das Tor zur Ukraine. Sie ist der schnellste Weg nach Lviv, da der Flugverkehr nicht mehr möglich ist und die Alternative, eine Zugfahrt mit Umsteigen mitten in der Nacht, deutlich länger dauert. Spätabends am Sonntag in Lviv angekommen, fährt der Bus durch die Stadt zum Hotel, vorbei an hell erleuchteten kleinen Supermärkten, die noch offen sind. Wir fahren an der Oper vorbei, die sehr an die Alte Oper in Frankfurt erinnert, mit großer Grünanlage davor, und sehen viele junge Männer und Frauen unterwegs, chic gekleidet. Mindestens fünf Essenskuriere mit dem typisch quadratischen Gepäck auf dem Rücken, flitzen auf Scootern oder Fahrrädern, eins davon Electro, uns entgegen oder am Bus vorbei.
An der Rezeption im Hotel, jeder zahlt seinen Aufenthalt selbst, achten unsere Sicherheitsbegleiter sorgfältig auf die Zimmernummer der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, damit, falls es einen Raketenalarm in der Nacht gibt, geprüft werden kann, dass es auch alle zum Safe Room geschafft haben. Wenn nicht, würden kräftige Sicherheitsleute sie aus den Zimmern holen. Das Hotel ist eine elegante, ehemalige K.u.K.-Bank, die bis in die Sowjetzeit als solche genutzt wurde; der Bunker ist ein ehemaliger Tresorraum. Die Anweisung ist klar: Bei Alarm darf natürlich nicht der Lift benutzt werden, sondern wir müssen durch das goldverzierte Treppenhaus hinunterlaufen.
Nachdem ich kurz Mantel und Rucksack aufs Bett geworfen habe, geht es runter zum Empfang des Oberbürgermeisters von Lviv, mit einer Vielzahl von jungen städtischen Beamtinnen und Beamten und anschließend einem gemeinsamem Essen bei gutem Wein. Bevor gegessen wird, erteilt der anwesende Priester auf Bitten des OBs von Lviv einen Segen auf ukrainisch. Die Frankfurter, als Vertreter einer Stadt des ernsthaften interreligiösen Dialogs, haben kein Problem damit. Das Essen begeistert.
Morgens in aller Frühe, kaum ist es etwas hell, gehe ich auf den Balkon zum Fotografieren und sehe einige Soldaten auf dem gegenüberliegenden Balkon. Sie stehen vor ihrem Büro mit Kaffeetasse und Zigarette. Der Tag beginnt, die Nacht war ruhig. Nach einer viel zu kurzen Bewunderung der famosen Dachlandschaft geht’s runter zum Frühstück und um 8 Uhr fängt das vollgepackte Tagesprogramm an, das mit unserer Rückfahrt nach Krakau um 20 Uhr enden wird.
Wir fahren in einem kleineren Bus durch die wunderschöne Altstadt, vor uns eine moderne Straßenbahn, zu einem sowjetischen Plattenbau-Viertel, vorbei an städtischen Bussen der indischen Firma Tata, die seit der Sowjetzeit hier ihre Linien fahren.
Unser erster und bedeutendster Programmpunkt ist im Außenbezirk, im wichtigsten Krankenhaus der Ukraine, wo schwerverwundete Soldaten und Zivilpersonen, also Frauen, Jugendliche und Kinder, operativ behandelt werden und mit einer Prothese wieder das Laufen oder Arm- und Handbewegen lernen. Nicht wenige haben bis zu 40 Operationen durchmachen müssen, damit sie noch halbwegs weiterleben können, irgendwie. Geleitet werden wir vom Chefarzt, der uns durch die Gänge führt und uns immer wieder in ein Zimmer zieht, um das Schicksal eines Patienten, mit dessen Zustimmung, zu erläutern.
An uns vorbei gehen Männer ohne Bein oder Fuß mit Gehhilfen. Auch ein junger kräftiger Mann mit Vollbart und Krater im Gesicht, wo früher das Auge war, wird an uns vorbei im Rollstuhl von einer Pflegerin geschoben. In einem Gymnastikraum sehen wir eine ältere Frau, die lernt, den Arm wieder zu bewegen und Männer die Handübungen machen oder versuchen ein Bein zu strecken. In den Räumen mit offener Tür sehen wir auf engem Raum vier Betten. Manchmal liegt darin ein Mann ohne Beine, oder ohne Arme, auf die Decke starrend oder über Kopfhörer Musik hörend. Behandelt werden auch Soldaten, die von den Russen gefangen genommen und schwer gefoltert wurden. Sie sind nach einer längeren Zeit des Horrors im Austausch für gefangene russische Soldaten freigekommen.
Das Krankenhaus mit der Reha und psychischer Nachbehandlung nennt sich „unbroken“. Es tut alles dafür, dass die Menschen vom russischen Terror nicht gebrochen werden. Schon vor dem gegenwärtigen Krieg war es ein Zentrum für Hirn- und Rücken-Operationen. Da die Stadt relativ wenig beschossen wird, wurde das Krankenhaus Anfang des Jahres renoviert und ausgebaut. Inzwischen ist es zum nationalen Krankenhaus für Schwerverletzte umgewidmet, hat knapp 2000 Patientinnen und Patienten und baut einen zusätzlichen Flügel für weitere 1000 Betten. Demnächst soll noch ein Krankenhaus in der Nähe, finanziert vom Samsung Konzern, gebaut werden. Durch gezielte Angriffe hat Russland bislang etwa 150 Krankenhäuser in der Ukraine zerstört. Der Bedarf nach hochspezialisierter Behandlung von Schwerverletzten ist enorm und wird noch Jahre bleiben. Die Ärzteschaft arbeitet eng mit Spezialisten aus den USA und Israel zusammen.
Wenige Tage nach der Rückkehr nach Frankfurt lese ich in der FAZ einen Aufsatz von Howard Hunt, einem australischen Schriftsteller und Rettungssanitäter in Charkiw. Es geht um die zunehmende Brutalität des Drohnenkrieges der Russen. Hunt schreibt über „thermobarische Sprengköpfe, transportiert von billigen chinesischen FPV-Drohnen“, die „mit hoher Präzision treffen. Bei der Explosion wird der Luft Sauerstoff entzogen, und es entsteht ein Feuerball, der alle Objekte im Umkreis verbrennt. Die Drohnen werden von Drohnenpiloten direkt in die Stellungen der Ukrainer gesteuert. Mit grauenhaftem Ergebnis“. – „… Inzwischen geht es nicht mehr darum zu töten, sondern schlimmste Verwundungen zuzufügen, um die medizinischen Ressourcen des Feindes zu erschöpfen.“
Solche Zerstörungen des Körpers, auch durch die Folter, verursachen nicht „nur“ tiefe körperliche Schäden, die das Leben radikal verändern, sondern auch tiefe Traumata, also psychische Schäden. Deshalb hat das Krankenhaus eine Psychologische Abteilung integriert. Ihr Leiter betont, dass die Psychiatrie als Ort jahrzehntelangen Missbrauchs in der Sowjetunion, als besonders grausames Gefängnis für oppositionelle Intellektuelle galt. Deshalb haben Psychologie und Psychiatrie immer noch einen schlechten Ruf in der Ukraine. Die psychischen Folgen der Verwundungen werden mitbehandelt, indem sie von vornherein in den Heilungs- und Reha-Prozess integriert sind. Die Kapazitäten reichen leider nur so weit, dass gegenwärtig nicht mehr als etwa die Hälfte der Patienten psychologisch geholfen werden kann.
Die Behandlung ist besonders bei Gefolterten wichtig, da das Trauma typischerweise in die Selbstisolation führt und Aggression gegen sich selbst und andere auslöst. Als besonders wirksam hat sich bei dieser komplexen Thematik eine Kunsttherapie erwiesen, die mit amerikanischen und israelischen Psycholog/innen immer weiterentwickelt wird. Innerhalb von wenigen Tagen wirkt sich diese Therapie auf gefolterte Männer aus. Sie beginnen aus dem tiefen Gefühl der Isolation mit Reden und Lächeln herauszutreten. Im Prinzip lässt sich schon am ersten gemalten Bild ablesen, welche Therapie beim jeweiligen Patenten sinnvoll ist.
Die Trauma-Therapie von Gefolterten wird auch mit der Beobachtung von Veränderungen im Gehirn begleitet, da festgestellt wurde, dass Folter Folgen im Gehirn hat. Sehr beindruckt, teilweise schockiert, verlassen wir das Krankenhaus, nachdem OB Mike Josef dem Leiter des Krankenhauses Unterstützung aus Frankfurt für den Ausbau von „unbroken“ zugesagt hat. Auf jeder Etage ist ein Hinweisschild, wer bei der Einrichtung der Etage besonders geholfen hat. Auffallend ist das Engagement der Stadt Freiburg, die wie Würzburg, schon länger eine Städtepartnerschaft mit Lviv verbindet. Direkt im Anschluss fuhren wir etwas weiter und besuchten das mit deutschen Entwicklungsgeldern finanzierte neue Gebäude, in dem moderne Prothesen für Soldaten und Zivilpersonen hergestellt werden.
Danach gehen wir wieder zurück in die Altstadt, zum Rathaus von Lviv. Nach einer Besichtigung des Safe Rooms und der Fluchtwege in diesem Altbau geht es ins Büro des Oberbürgermeisters. Dort schreibt sich Mike Josef für Frankfurt ins Goldene Buch ein, es werden nette symbolische Geschenke ausgetauscht. Mike Josef erhält ein Symbol für „unbroken“ und der OB von Lviv eine kleine „Paulskirche“.
Anschließend gibt es ein Mittagessen im Café des Rathauses, dann gehen wir zu Fuß zu einer Kirche, wo eine Messe für zwei gefallene Soldaten gehalten wird. Wir kommen verspätet an, stehen deshalb draußen, als Priester mit Kreuz und Soldaten mit den Särgen, gefolgt von den Familien aus der Kirche schreiten und die Särge in den Leichenwagen schieben. Begleitet wird das Hinaustragen der Särge von einer militärischen Blaskapelle. Die beiden Oberbürgermeister und die Dezernentin O’Sullivan bekunden mit ihrer stillen Haltung am offenen Leichenwagen ihren Respekt für das Opfer der Soldaten. Die Leichenwagen fahren dann mit Blaulicht-Begleitung und Anteilnahme der Bevölkerung langsam durch die Stadt zum Friedhof.
Nachdem wir wieder beim Rathaus ankommen und in den Bus steigen, fahren wir im Dauerregen zu einem Außenbereich der Stadt und besuchen einen Soldatenfriedhof an einem kleinen Wald. Gegenwärtig sind etwa 30 000 Männer und Frauen aus Lviv an der Front und bislang etwa 1000 Männer und Frauen gefallen. Dieser besondere Friedhof ist leider am Wachsen.
Anschließend fahren wir in eine reine Wohngegend in der Innenstadt. Hier ist noch vor wenigen Wochen, am 4. September, um viertel vor sechs Uhr morgens eine Rakete in Begleitung von Drohnen der russischen Armee gezielt auf ein Wohnhaus geflogen. Weit und breit gibt es keine militärische Anlage. Es geht Russland eindeutig darum, ukrainische Zivilisten, die um diese Uhrzeit im Bett liegen, zu töten. Zwei obere Stockwerke des Hauses wurden zerstört; es starben dadurch eine Mutter mit drei Kindern und drei weitere Bewohner. Der Vater der getöteten Kinder war gerade kurz aus dem Haus gegangen und überlebte dadurch. Dieser Angriff hatte die erhöhten Sicherheitsmaßnahmen für unsere Reise zur Folge und leider auch, dass die Reise, zur Reduzierung des Risikos um einen Tag verkürzt wurde. Die ursprünglich geplanten Besuche einiger der vielen Kultureinrichtungen in Lviv fielen zu unserem Bedauern aus.
Zwei dieser Einrichtungen sind jedoch mittlerweile Partner des neugegründeten „Freundeskreis Frankfurt und Lviv“, um gemeinsam einen kulturellen Austausch mit Lviv zu fördern.
Nach einem Besuch eines katholischen Waisenhauses für Jungen mit angeschlossenem Lehrbetrieb für einige Handwerksberufe, geht es am Abend in der Dunkelheit mit dem Bus nach Krakau zurück. Irgendwann auf der Strecke kommt uns ein kleiner Konvoi von Lastwagen mit aufgeladenen Panzern entgegen.
Zur Person: Abraham de Wolf ist Vorsitzender des „Freundeskreis Frankfurt und Lviv“.
Fotogalerie: Eindrücke aus Lviv
28. Oktober 2024, 10.30 Uhr
Abraham de Wolf
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