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Rainbow Stories

Wäre ich noch im Nordirak – ich wäre längst tot

Die Rainbow Stories, die auf der Frankfurter Buchmesse vorgetragen werden, widmen sich diesmal einem Geflüchteten aus dem Nordirak.
Ich heiße Kojin, mein Name bedeutet so viel wie „mehrere Leben“. Tatsächlich hatte ich mit meinen 29 Jahren bereits mehrere Leben. Im irakischen Kurdistan sagten die Menschen mir ständig: „Du siehst aus wie eine Frau. Schneide dir deine Haare und beweg dich nicht so komisch.“ Ich antwortete: „Ich kann doch nicht jeden Tag wie ein Schauspieler leben. Ich bin einfach so.“ Mein Umfeld gab mir immer das Gefühl, falsch zu sein. In der Pubertät fing es an – die anderen Jungs mobbten, beleidigten und verprügelten mich. Meine Lehrerinnen und Lehrer haben mich nie verteidigt.

Später wurde Facebook im Irak populär. Inspiriert von Lady Gagas Style hatte ich Fotos von mir mit Make Up und Kleidern hochgeladen. Mein bester Freund und Sitznachbar, ein Junge aus einer angesehenen Familie, fragte mich nach meinem Profil-Pseudonym. Ich schickte es ihm. Am nächsten Schultag setze er sich an einen Tisch am anderen Ende des Raumes. Er sprach nie wieder ein Wort mit mir. Drei Mal wechselte ich die Schule, aber es war überall schlimm. Schließlich brach ich ab. Als ich anfing zu arbeiten, wurde es nicht besser. Im Irak wirst du als „Lady Boy“ – als Junge mit femininen Zügen – am Arbeitsplatz sehr oft sexuell bedrängt.

Ich erinnere mich an einen Job in einem Möbelunternehmen. Ich war 17, meine Aufgabe war es, Möbel zusammenzuschrauben. Mein Chef, ein alter Mann, gab mir immer Spätschichten. Ich war gerade dabei, einen Schrank aufzustellen, als ich plötzlich seinen Atem in meinem Nacken spürte. Er versuchte, mich zu küssen und sagte, wenn wir Sex hätten, gäbe es mehr Geld und Möglichkeiten aufzusteigen. Ich rannte aus der Halle und kehrte nie mehr zurück.

Ein Mullah erklärte mir: „Homosexuelle sind von bösen Geistern besessen.“

2014 kontaktierte mich ein Regisseur aus Paris über Facebook und erzählte mir von seinem Vorhaben, einen Dokumentarfilm über homosexuelle Menschen im Nordirak zu drehen. Damals lebte ich noch zu Hause. Ich bekam kein Geld für den Film, willigte aber ein – unter der Bedingung, dass er auf keinen Fall im Irak oder in den kurdischen Autonomiegebieten gezeigt werden dürfe, wegen meiner Familie. Im Irak ist es verboten, in Filmen über LGBT-Themen zu sprechen. Aber ich wollte diesen Film machen! Ich wollte zeigen, wie es sich anfühlt, ein queerer Mensch in dieser Gesellschaft zu sein. Also wurde ich zur Hauptfigur. Eine sehr gefährliche Entscheidung.

Info
Das JOURNAL FRANKFURT lädt gemeinsam mit Rainbow Refugees Frankfurt zu Rainbow Stories – Geschichten von queeren Refugees. Einlass ist am 20.10. um 19 Uhr im Walden, Kleiner Hirschgraben 7. Wir haben für unsere Leserinnen und Leser Plätze reserviert. Der Eintritt ist frei, aufgrund der begrenzten Platzzahl bitten wir um Anmeldung unter rainbowstories@t-online.de
/ Kennwort JOURNAL FRANKFURT. Um die Menschen bei laufenden Asylverfahren unterstützen zu können, bittet die AIDS- Hilfe Frankfurt e.V. um Spenden unter www.frankfurt-aidshilfe.de/de/spenden .


Der Film zeigt, wie die homophobe Gesellschaft im kurdischen Nordirak tickt. Ein Mullah erklärte mir, Homosexuelle seien von bösen Geistern besessen, die man mit Koranversen sowie hundert festen Schlägen auf den Rücken durch ein Holzbrett austreiben müsse. Er demonstrierte mir, wie es geht. Vier Mal schlug er zu. Meine Angst war so groß, dass ich die Schläge gar nicht spürte.
Es gab eine weitere Situation beim Filmdreh, die ich nie vergessen werde. Nichtsahnend fand ich mich umgeben von sechs kurdischen Männern auf einem abgelegenen Oliven-Feld außerhalb der Stadt wieder. Ich kannte keinen von ihnen und wusste auch nicht, nach welchen Kriterien der Regisseur sie ausgewählt hatte. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, dass einer der Männer eine kleine Pistole in der Hose trug.

„In meinem Clan wäre es normal, solche Menschen lebendig zu begraben“

Zunächst sprachen wir über Freiheit. Alle waren sich einig, wie wichtig Freiheit sei. Aber die Art von Freiheit, über die ich sprechen wollte, löste heftige Reaktionen aus. Einer der Männer verzog angewidert sein Gesicht und sagte: „In meinem Clan wäre es normal, solche Menschen lebendig zu begraben“. Wir saßen alle im Schneidersitz unter einem Baum. Meine Beine begannen zu zittern. Es war das erste Mal, dass ich mit fremden Menschen über meine Sexualität sprach. Glücklicherweise trug ich an dem Tag eine schwarze Kappe, die mein langes Haar verbarg. Ich bin mir sicher, sie hat mich beschützt. Der Mann mit der Pistole und ein zweiter standen auf und gingen fluchend weg.

Ich wäre längst tot, wenn ich den Nordirak nicht verlassen hätte. Damals trug ich längeres Haar und abends manchmal Make Up. Zwei Mal wurde ich von Salafisten mit Messern angegriffen. Ich habe heute noch lange Narben auf zwei Fingern. Sie wollten mir das Gesicht zerschneiden. Ich wusste, dass ich dieses Land verlassen musste, um zu überleben.
Es war der 18. Februar 2016 – nie werde ich dieses Datum vergessen. Ich versuchte, in einem klapprigen Fischerboot über das Meer zu flüchten. Wir waren bestimmt 50 Menschen auf zehn Quadratmetern Bootsfläche. Zwischen Izmir und Bodrum kam eine große Welle. Ich fiel als einziger ins Wasser und ich konnte nicht schwimmen. Es war kalt, es war so unglaublich kalt. Einer der Passagiere sprang hinterher und holte mich zurück ins Boot, aber wir mussten die Flucht abbrechen. In dieser Nacht verlor ich all meine Hoffnung.

Info
Zur Autorin: Nadia Saadi blieb nicht immer in Frankfurt, aber immer Frankfurterin. Die Deutsch-Palästinenserin spricht Hessisch, Arabisch, Englisch und Französisch – und damit trotzdem weniger Sprachen als viele Protagonistinnen der Rainbow Stories. Ihre Passion fürs Schreiben nutzt sie, um unentgeltlich soziale Projekte zu unterstützen. Den Rainbow Refugees der AIDS-Hilfe Frankfurt e.V. ist sie seit 2017 verbunden. Die Idee zu den Rainbow Stories entstand als Gemeinschaftsprojekt, um Geschichten von außergewöhnlichen Menschen festzuhalten. Die Autorin achtete darauf, dass die Menschen der Rainbow Stories ihre Geschichte aus ihrer eigenen Perspektive erzählen – und dabei selbst entscheiden können, was ihnen wichtig ist.


Ich kehrte zu meiner Familie zurück. Zwei Monate lang schloss ich mich in meinem Zimmer ein, schlief und weinte nur noch. Ich wollte mit niemandem sprechen und hatte keinen Appetit mehr. Mein Stiefvater und mein Onkel sagten, ich sei böse, ich brächte nur Dunkelheit und Schande über die ganze Familie. Ich wusste, sie wollten mich umbringen. Schließlich sagte meine Mutter zu mir: „Egal, wie du bist – du bist mein Sohn und ich werde dir helfen.“ Sie nahm ihre gesamten Ersparnisse, verkaufte ihren Goldschmuck und lieh sich zusätzlich Geld. Dann gab sie mir 12 000 Euro, ein Vermögen! Ein Visum für Polen zu bekommen, war damals recht einfach. Mit Geld ist alles möglich.

Im April 2017, ich war 24 Jahre alt, flog ich dann nach Warschau, um dort meinen Vater zu treffen. Ich kannte ihn nicht, hatte nicht mal ein Foto von ihm. Meine Eltern hatten sich schon vor meiner Geburt getrennt. Mein Vater lebt in München, er ist verheiratet und hat mit seiner Frau drei weitere Kinder. Wir trafen uns also in Warschau in einem Hotel. Er kam mit einem Freund und wir aßen unten im Restaurant gemeinsam zu Abend. Der Freund musterte mich von oben bis unten – beobachtete jede meiner Bewegungen, wie ich aß, wie ich trank, wie ich rauchte. Ich fühlte mich wie bei einem Röntgenscreening. Dann hörte ich, wie er zu meinem Vater sagte, ich sei wie eine Frau. Obwohl ich die Haare kurz trug und mir für die Begegnung sogar einen Bart wachsen ließ, konnte ich mich nicht verstellen.

Rainbow Stories: „Ich bin oft wütend auf meine eigene Sexualität“

Später besuchte ich meinen Vater in München. Am sechsten Tag sagte er: „Am besten gehst du in eine andere Stadt, irgendwo in Mitteldeutschland. Ich will dich nicht in meiner Nähe haben.“ Nach 24 Jahren habe ich meinen Vater zum ersten Mal gefunden – und nach sechs Tagen wieder verloren.

Ich bin oft wütend auf meine eigene Sexualität. Ich werde ständig gefragt, ob ich ein Mann oder eine Frau bin. Ich fühle, dass ich etwas von beiden Seiten in mir trage. Rein körperlich gesehen bin ich ein Mann. Ich mag meinen Körper so wie er ist, es gibt keinen Grund, ihn zu verändern. Trotzdem bin ich oft wütend auf meine eigene Sexualität. Sie hat mir viel Leid gebracht und auch meiner Mutter großen Schmerz zugefügt. Normalerweise hätte ich sie unterstützen müssen – nicht umgekehrt. Obwohl ich jetzt in Deutschland lebe, lässt mich dieser Gedanke nicht los.

Ich habe meine Mutter seit sechs Jahren nicht mehr gesehen. Mein größter Traum ist es, sie wieder zu sehen. Dann möchte ich mit ihr offen über meine Sexualität sprechen können. Das braucht bestimmt Zeit, aber sie liebt mich. Ich bin mir sicher, dass sie mich irgendwann verstehen und akzeptieren wird.
Der Ort, an dem du aufwächst, spielt eine wichtige Rolle bei deiner persönlichen Entwicklung. Es braucht ein gesundes Umfeld für die gesunde Entwicklung der eigenen Sexualität. Wenn du permanent Angst haben musst, verurteilt oder geoutet zu werden, hindert dich das an deinem persönlichen Wachstum.

Um wirklich frei sein zu können, muss noch vieles in mir heilen

Früher habe ich immer gedacht, wenn ich erst nach Deutschland komme, werde ich endlich frei sein. Aber ich habe im Irak so viele dunkle Erfahrungen gemacht, die ich nicht einfach vergessen oder loslassen kann. Sie verfolgen mich. Es ist, als hätte ich ein Gefängnis im Kopf. Um wirklich frei sein zu können, muss noch vieles in mir heilen. Aber ich möchte nicht in der Vergangenheit verharren, sondern nach vorne blicken. Ich habe so viele wichtige Jahre verloren – jetzt will ich alles nachholen.

Mittlerweile arbeite ich im Service in einem 5-Sterne-Hotel in Frankfurt. Wenn ich arbeite, habe ich ein ganz anderes Lebensgefühl. Ich beschäftige mich weniger mit meinem Äußeren. Ich lerne, selbständig Entscheidungen zu treffen. Hier kann ich trotz meiner Sexualität frei und ohne Angst arbeiten, werde nicht sexuell belästigt oder beleidigt. Natürlich gibt es überall homophobe Menschen, auch unter unseren Gästen. Aber es gibt Gesetze, die mich schützen.

Es ist mein erster richtiger Arbeitsplatz. Ich habe keinen einzigen Tag gefehlt und komme immer pünktlich. Meine Chefin lobt mich immer, sie sagt, ich arbeite sehr schnell und sei sehr freundlich zu den Gästen. Mein Nachname klingt ähnlich wie Hama, sie machte daraus ein Wortspiel und sagte, ich sei einfach „der Hammer“. Mein nächstes Ziel ist es, eine richtige Hotellehre zu machen.
Manchmal trage ich schwarzen Kajal auf der Arbeit. Sie wissen alle, dass ich schwul bin. Das war mir sehr wichtig. Sie mögen mich trotzdem.

Bereits erschienen ist die Story von Wassim aus Marokko, von Atish aus dem Iran und die Geschichte von Olga aus Kiew. Das Interview mit Gunnar Solka zu den Stories findet Ihr hier.
 
Fotogalerie:
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22. Oktober 2023, 08.15 Uhr
Nadia Saadi
 
 
 
 
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