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Kindergrundsicherung
„Chance auf ein gutes Aufwachsen bleibt mit FDP-Plan gering“
Die FDP will die staatliche Leistung für Kinder nicht weiter erhöhen. Armutsforscherin Irina Volf stellt im JOURNAL hingegen fest: „Gegen Kinderarmut hilft nur Geld.“
Frau Volf, Sie forschen zum Thema Armut und gleichberechtigter Teilhabe. Ab wann ist ein Kind als arm zu bezeichnen – und mit welchen sozialen Folgen?
In unserer Forschung bezeichnen wir Kinder als arm, wenn sie in einkommensarmen Familien aufwachsen. Dabei gibt es zwei gängige Definitionen von Einkommensarmut: Gemäß einer sozialstaatlich definierten Armutsgrenze gelten Haushalte als arm, wenn sie auf finanzielle staatliche Unterstützung angewiesen sind wie z. B. Bürgergeld oder Wohngeld. Von relativer Armut oder einer Armutsgefährdung spricht man dann, wenn ein Haushalt über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens in Deutschland verfügt.
Das betrifft aber nicht nur Bürgergeld-Empfängerinnen...
Richtig, viele Familien sind von Armut trotz einer Erwerbstätigkeit betroffen, weil das Geld knapp wird. Die Armutsgefährdungsschwelle liegt aktuell für eine vierköpfige Familie mit zwei Kindern unter 14 Jahren bei 2 410 Euro Netto pro Monat, für eine alleinstehende erwachsene Person bei 1 148 Euro.
Armutsbetroffene Familien sind von bestimmten Lebensweisen ausgeschlossen
Was heißt das konkret?
Armutsbetroffene Familien verfügen über so wenig Mittel, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in unserer Gesellschaft als normal gilt. Dieses Einkommen reicht meistens nur, ein Existenzminimum zu sichern. Von kultureller und sozialer Teilhabe wie beispielsweise mal als Familie ins Theater oder mit Freunden ins Kino zu gehen, sind arme Kinder weitgehend aufgrund von hohen Kosten ausgeschlossen. Einen einwöchigen Urlaub pro Jahr zu unternehmen, oder Rücklagen zu bilden, ist für viele arme Familien kaum möglich.
Wie ernst ist die Kinderarmut in Frankfurt?
Gemäß einer aktuellen Studie der Bertelsmann Stiftung zur Kinder- und Jugendarmut in Deutschland lebten Ende 2021 in Frankfurt 22 789 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren in Familien, die SGB II-Leistungen, also Hartz IV bezogen. Es sind 17,6 Prozent aller Unterachtzehnjährigen in Frankfurt. Dieser Anteil ist zwar deutlich niedriger als in Kassel mit 28,0 Prozent oder in Offenbach mit 21,7 Prozent. Er ist aber gleichzeitig erheblich höher als im Hessendurchschnitt mit 14,2 Prozent oder im Bundesvergleich mit 13,8 Prozent.
Armutsquote in Frankfurt teils über 42 Prozent
Das Monitoring der Stadt Frankfurt gibt kleinräumlich Auskunft, wie hoch die Armutsbetroffenheit in den einzelnen Stadtteilen ist. Besonders hohe Armutsquoten – bis hin zu 42,6 Prozent - gibt es im Bahnhofsviertel sowie in Sossenheim, Fechenheim-Süd, Zeilsheim-Ost und Höchst-Süd.
Inwiefern könnte eine Kindergrundsicherung Abhilfe schaffen, so wie sie im Koalitionsvertrag festgeschrieben ist?
Die Einführung einer Kindergrundsicherung wurde von der Zivilgesellschaft, den Verbänden und der Wissenschaft seit Jahren gefordert. Damit wurde zum einen die Hoffnung verbunden, alle sozialstaatlichen Leistungen für armutsbetroffene Kinder und Jugendliche soweit zu bündeln und zu automatisieren, dass möglichst viele Familien davon mit einem geringen Aufwand profitieren. Denn viele Familien, die in „verdeckter Armut“ leben und einen Anspruch auf Hilfen haben, beantragen keine Unterstützung aus Unwissen, Scham oder wegen eines hohen bürokratischen Aufwands.
Kindergrundsicherung: Soziokulturelles Existenzminimum sichern
Zum anderen wurde mit der Einführung der Kindergrundsicherungen die Idee verbunden, die Höhe der Leistungen um einen Beitrag für ein sogenanntes soziokulturelles Existenzminium zu erweitern. Dadurch sollte der Zugang zu kulturellen und sozialen Aktivitäten für Kinder und Jugendliche erleichtert werden. Wie die aktuellen Diskussionen der Bundesregierung zeigen, ist die Realisierung von den beiden Ideen nicht einfach und teilweise politisch nicht gewollt.
Die FDP will staatliche Leistungen nicht weiter erhöhen, sondern anders verteilen, Stichwort: „Wirkungsgrad erhöhen“. Was halten Sie von den FDP-Plänen?
Aus meiner Sicht sind die beiden Aspekte – einerseits die Erhöhung des Wirkungsgrads durch eine bessere Erreichbarkeit von armutsbetroffenen Familien und andererseits die Erhöhung der Summe der staatlichen Leistungen für arme Kinder und Jugendliche – zwei Seiten einer Medaille. Wenn mehr bedürftige Kinder erreicht werden als aktuell, ist es auf jeden Fall positiv zu bewerten.
Aber?
An der Tatsache, dass von aktuellen staatlichen Hilfen für arme Kinder keine kulturelle und soziale Teilhabe möglich ist, wird sich durch die Einführung der Kindergrundsicherung nach dem „FDP-Plan“ nichts ändern. Das ist bitter, weil die Chancen auf ein gutes Aufwachsen für rund 2,88 Millionen armutsgefährdete Kinder und Jugendliche weiterhin sehr gering bleiben würden.
„Von aktuellen staatlichen Hilfen ist keine soziale und kulturelle Teilhabe möglich“
Ein Argument ist die erfolgte Erhöhung des Kindergeldes. Hilft das gegen Kinderarmut?
Kindergeld ist aktuell keine soziale, sondern eine steuerliche staatliche Leistung, von der gut verdienende Haushalte mehr profitieren als Haushalte, die auf staatliche Unterstützung angewiesen oder in einem Niedriglohnsektor tätig sind. Die Kindergrundsicherung muss allerdings arme Familien deutlich besserstellen, mittlere Einkommen nicht schlechter stellen und hohe Einkommen nicht weiter als bisher entlasten. Was die Höhe des Kindergeldes angeht, so soll diese aufgrund der exorbitanten Inflation neu bewertet und regelmäßig angepasst werden. Kindergeld allein reicht als Instrument zur Bekämpfung von Kinderarmut nicht aus.
Welche Forderungen stellen Sie als Wissenschaftlerin an die Politik?
Gegen Kinderarmut hilft Geld und zwar sowohl als direkte monetäre Leistung an betroffene Familien als auch in Form von Investitionen in die soziale Infrastruktur wie z. B. Kitaplätze, Familienhilfen, Beratungsangebote. Diese zwei Aspekte dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Nur wenn die Kindergrundsicherung bestimmte Kriterien erfüllt, kann sie ihre Wirkung tatsächlich entfalten. Daher ist es sehr wichtig, die Belange der Kinder und Jugendlichen in unserem Land zu priorisieren und unser Sozialsystem zukunftsfähig zu modernisieren.
_______________________________________________________________________________
Zur Person: Irina Volf ist die Bereichsleiterin Armut im Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V. in Frankfurt. Ihre Themen sind die gleichberechtigte Teilhabe und die Angleichung der Lebensbedingungen zwischen den sozialen Gruppen. Sie unterstützt Handelnde in der Praxis und Politik dabei, ein vertieftes Verständnis zu den Entstehungsbedingungen von Armut sowie Mechanismen zur Bekämpfung von Armut und Armutsfolgen zu gewinnen.
In unserer Forschung bezeichnen wir Kinder als arm, wenn sie in einkommensarmen Familien aufwachsen. Dabei gibt es zwei gängige Definitionen von Einkommensarmut: Gemäß einer sozialstaatlich definierten Armutsgrenze gelten Haushalte als arm, wenn sie auf finanzielle staatliche Unterstützung angewiesen sind wie z. B. Bürgergeld oder Wohngeld. Von relativer Armut oder einer Armutsgefährdung spricht man dann, wenn ein Haushalt über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens in Deutschland verfügt.
Das betrifft aber nicht nur Bürgergeld-Empfängerinnen...
Richtig, viele Familien sind von Armut trotz einer Erwerbstätigkeit betroffen, weil das Geld knapp wird. Die Armutsgefährdungsschwelle liegt aktuell für eine vierköpfige Familie mit zwei Kindern unter 14 Jahren bei 2 410 Euro Netto pro Monat, für eine alleinstehende erwachsene Person bei 1 148 Euro.
Was heißt das konkret?
Armutsbetroffene Familien verfügen über so wenig Mittel, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in unserer Gesellschaft als normal gilt. Dieses Einkommen reicht meistens nur, ein Existenzminimum zu sichern. Von kultureller und sozialer Teilhabe wie beispielsweise mal als Familie ins Theater oder mit Freunden ins Kino zu gehen, sind arme Kinder weitgehend aufgrund von hohen Kosten ausgeschlossen. Einen einwöchigen Urlaub pro Jahr zu unternehmen, oder Rücklagen zu bilden, ist für viele arme Familien kaum möglich.
Wie ernst ist die Kinderarmut in Frankfurt?
Gemäß einer aktuellen Studie der Bertelsmann Stiftung zur Kinder- und Jugendarmut in Deutschland lebten Ende 2021 in Frankfurt 22 789 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren in Familien, die SGB II-Leistungen, also Hartz IV bezogen. Es sind 17,6 Prozent aller Unterachtzehnjährigen in Frankfurt. Dieser Anteil ist zwar deutlich niedriger als in Kassel mit 28,0 Prozent oder in Offenbach mit 21,7 Prozent. Er ist aber gleichzeitig erheblich höher als im Hessendurchschnitt mit 14,2 Prozent oder im Bundesvergleich mit 13,8 Prozent.
Das Monitoring der Stadt Frankfurt gibt kleinräumlich Auskunft, wie hoch die Armutsbetroffenheit in den einzelnen Stadtteilen ist. Besonders hohe Armutsquoten – bis hin zu 42,6 Prozent - gibt es im Bahnhofsviertel sowie in Sossenheim, Fechenheim-Süd, Zeilsheim-Ost und Höchst-Süd.
Inwiefern könnte eine Kindergrundsicherung Abhilfe schaffen, so wie sie im Koalitionsvertrag festgeschrieben ist?
Die Einführung einer Kindergrundsicherung wurde von der Zivilgesellschaft, den Verbänden und der Wissenschaft seit Jahren gefordert. Damit wurde zum einen die Hoffnung verbunden, alle sozialstaatlichen Leistungen für armutsbetroffene Kinder und Jugendliche soweit zu bündeln und zu automatisieren, dass möglichst viele Familien davon mit einem geringen Aufwand profitieren. Denn viele Familien, die in „verdeckter Armut“ leben und einen Anspruch auf Hilfen haben, beantragen keine Unterstützung aus Unwissen, Scham oder wegen eines hohen bürokratischen Aufwands.
Zum anderen wurde mit der Einführung der Kindergrundsicherungen die Idee verbunden, die Höhe der Leistungen um einen Beitrag für ein sogenanntes soziokulturelles Existenzminium zu erweitern. Dadurch sollte der Zugang zu kulturellen und sozialen Aktivitäten für Kinder und Jugendliche erleichtert werden. Wie die aktuellen Diskussionen der Bundesregierung zeigen, ist die Realisierung von den beiden Ideen nicht einfach und teilweise politisch nicht gewollt.
Die FDP will staatliche Leistungen nicht weiter erhöhen, sondern anders verteilen, Stichwort: „Wirkungsgrad erhöhen“. Was halten Sie von den FDP-Plänen?
Aus meiner Sicht sind die beiden Aspekte – einerseits die Erhöhung des Wirkungsgrads durch eine bessere Erreichbarkeit von armutsbetroffenen Familien und andererseits die Erhöhung der Summe der staatlichen Leistungen für arme Kinder und Jugendliche – zwei Seiten einer Medaille. Wenn mehr bedürftige Kinder erreicht werden als aktuell, ist es auf jeden Fall positiv zu bewerten.
Aber?
An der Tatsache, dass von aktuellen staatlichen Hilfen für arme Kinder keine kulturelle und soziale Teilhabe möglich ist, wird sich durch die Einführung der Kindergrundsicherung nach dem „FDP-Plan“ nichts ändern. Das ist bitter, weil die Chancen auf ein gutes Aufwachsen für rund 2,88 Millionen armutsgefährdete Kinder und Jugendliche weiterhin sehr gering bleiben würden.
„Von aktuellen staatlichen Hilfen ist keine soziale und kulturelle Teilhabe möglich“
Ein Argument ist die erfolgte Erhöhung des Kindergeldes. Hilft das gegen Kinderarmut?
Kindergeld ist aktuell keine soziale, sondern eine steuerliche staatliche Leistung, von der gut verdienende Haushalte mehr profitieren als Haushalte, die auf staatliche Unterstützung angewiesen oder in einem Niedriglohnsektor tätig sind. Die Kindergrundsicherung muss allerdings arme Familien deutlich besserstellen, mittlere Einkommen nicht schlechter stellen und hohe Einkommen nicht weiter als bisher entlasten. Was die Höhe des Kindergeldes angeht, so soll diese aufgrund der exorbitanten Inflation neu bewertet und regelmäßig angepasst werden. Kindergeld allein reicht als Instrument zur Bekämpfung von Kinderarmut nicht aus.
Welche Forderungen stellen Sie als Wissenschaftlerin an die Politik?
Gegen Kinderarmut hilft Geld und zwar sowohl als direkte monetäre Leistung an betroffene Familien als auch in Form von Investitionen in die soziale Infrastruktur wie z. B. Kitaplätze, Familienhilfen, Beratungsangebote. Diese zwei Aspekte dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Nur wenn die Kindergrundsicherung bestimmte Kriterien erfüllt, kann sie ihre Wirkung tatsächlich entfalten. Daher ist es sehr wichtig, die Belange der Kinder und Jugendlichen in unserem Land zu priorisieren und unser Sozialsystem zukunftsfähig zu modernisieren.
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Zur Person: Irina Volf ist die Bereichsleiterin Armut im Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V. in Frankfurt. Ihre Themen sind die gleichberechtigte Teilhabe und die Angleichung der Lebensbedingungen zwischen den sozialen Gruppen. Sie unterstützt Handelnde in der Praxis und Politik dabei, ein vertieftes Verständnis zu den Entstehungsbedingungen von Armut sowie Mechanismen zur Bekämpfung von Armut und Armutsfolgen zu gewinnen.
14. April 2023, 11.00 Uhr
Katja Thorwarth
Katja Thorwarth
Die gebürtige Frankfurterin studierte an der Goethe-Uni Soziologie, Politik und Sozialpsychologie. Ihre journalistischen Schwerpunkte sind Politik, politisches Feuilleton und Meinung. Seit März 2023 Leitung online beim JOURNAL FRANKFURT. Mehr von Katja
Thorwarth >>
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