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Demokratie gestalten
„Die diverse Demokratie ist ein Dauerauftrag“
In Demokratien geht es um die Stimmen der Einzelnen. Aus ihnen wird ein vielstimmiger Chor mit je eigenen Geschichten voll von Unterschiedlichkeit und Individualität. Ein Gastbeitrag von Nargess Eskandari-Grünberg.
Jedes Mal, wenn der Begriff Mehrheitsgesellschaft fällt, möchte ich kurz Einspruch rufen. In Deutschland, wie in überhaupt den meisten Staaten Europas, ist es mittlerweile in Wirklichkeit so wie in Frankfurt: Weit über die Hälfte der Menschen haben eine internationale Biografie. Es gibt keine Homogenität mehr nach Jahrhunderten der Flucht und Vertreibung, der Globalisierung, der Truppenverlegungen und Grenzverschiebungen, der sogenannten Gastarbeiterschaften und Migrationsbewegungen.
Die zahlreichen soziostrukturellen Veränderungen sind unhintergehbar. Sie haben eine neue Realität geschaffen, die einem ureigenen Anspruch der Demokratie eine neue Kraft verleiht: die Teilhabe aller zu ermöglichen. Das wird nicht nur von den Mitgliedern bislang marginalisierter Gruppen gefordert, es entspricht auch dem demokratischen Ideal. Ein Gegenbild zur Diktatur. Dort zählt nur, wer den Autokraten das Wort redet.
„In Demokratien geht es um die Stimmen eines jeden Einzelnen“
In Demokratien geht es um die Stimmen eines jeden Einzelnen. Aus ihnen wird ein vielstimmiger Chor mit je eigenen Geschichten voll von Unterschiedlichkeit und Individualität. Ein einziges Babylon. Eine Heimat. Erst recht für jene, die wie ich aus Diktaturen geflohen sind. Welch ein Glück wir haben, in einer Demokratie Unterschlupf gefunden zu haben, aus dem Haus gehen zu können, ohne darüber nachzudenken, welche Kleider wir tragen, was wir sagen oder welche Musik wir hören, welche Bücher wir lesen. Es ist eine Errungenschaft. Umso sorgenvoller blicken wir, die diese Errungenschaft nicht durch Geburt erhalten haben, sondern sie über leidvolle Umwege erlangen mussten, auf jene Teile der demokratischen Gesellschaft, die deren Pluralität als Gefährdung ansehen.
„Es lässt sich nicht verleugnen, dass Jahre der rechten und verschwörungsideologischen Agitation ihre Spuren hinterlassen haben“
Es lässt sich nicht verleugnen, dass Jahre der rechten und verschwörungsideologischen Agitation ihre Spuren hinterlassen haben. Nicht nur an den Rändern, sondern auch mitten im Bürgertum. Folgt man der jüngsten Studie dazu, sehen wir einen tiefgreifenden Wandel. Gegenüber dem Vorjahr haben sich nationalchauvinistische Einstellungen nahezu verdoppelt auf 16,6 Prozent. Acht Prozent der Menschen in Deutschland haben ein manifest rechtsextremes Weltbild. Es droht etwas zu zerbrechen. Gleichzeitig erschüttert seit dem 7. Oktober eine Welle antisemitischer Kundgebungen und Übergriffe das Land. Als israelische Zivilistinnen und Zivilisten ermordet wurden, brach sich Judenhass auf unseren Straßen Bahn.
„Die Probleme der Gesellschaft lassen sich nicht mit restriktiveren Migrationsgesetzen oder Angriffen auf die plurale Demokratie lösen“
Dieses bedenkliche Gesamtbild war keineswegs ausgemacht. Noch vor kurzem sprachen Wissenschaftlerinnen wie Naika Foroutan von einer „postmigrantischen Gesellschaft“. Gemeint ist damit eine Gesellschaft, in der die Realität der Einwanderung weitgehend akzeptiert ist. Heute scheint es in der Bundespolitik vorrangig darum zu gehen, ob sich Migration abwehren lässt. Dabei ist klar: Die Probleme der Gesellschaft – seien sie wirtschaftlich, sozial oder ökologisch – lassen sich nicht mit restriktiveren Migrationsgesetzen oder Angriffen auf die plurale Demokratie lösen.
Niemandes Lebensqualität wird durch die Erleichterung von Abschiebungen oder härtere Grenzkontrollen verbessert. Deswegen sollte man sich von der Illusion verabschieden, dass die Rechten durch derlei Konzessionen an sie geschwächt werden. Im Gegenteil: Wer rechte Rhetorik bedient, legitimiert damit ihre Positionen. Der Krise ließe sich anders begegnen. Hass, Rassismus und Antisemitismus müssen wir uns stets entgegenstellen. Und wir sollten die positiven Aspekte unseres Zusammenlebens zur Politik erheben.
„Die plurale Gesellschaft steckt nur solange in der Krise, solange die Menschen nicht daran glauben“
Ich denke, dass eine pragmatische Grundlage dafür die Menschenrechte sein können. Die Menschenrechte sind den meisten unmittelbar evident. Man versteht ihre Artikel, ohne rechtswissenschaftliche Abhandlungen darüber lesen zu müssen. Schon Kinder erkennen ihren universellen Charakter. Menschenrechte beschreiben zudem keinen Status quo, sondern einen Anspruch. Sie zur Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu machen, kann nicht bedeuten, sie einmal zu verkünden und damit zufrieden zu sein. Man muss sie immer wieder einklagen, im Handeln und auch der politischen Kommunikation.
Dieses hehre Ideal lässt sich konkretisieren in allen Ebenen politischen, administrativen und zivilgesellschaftlichen Handelns. Indem strukturelle Diskriminierungen abgebaut, indem Teilhabe und Empowerment gefördert werden und indem die Lebens- und Liebenswürdigkeit der pluralen Gesellschaft immer wieder hervorgehoben wird. Die plurale Gesellschaft steckt nur solange in der Krise, solange die Menschen nicht daran glauben. Sie müssen sie anerkennen und gestalten.
„Für diese Rechte einzustehen, ist keine Bürde oder ein Problem, sondern ein Ideal, das für eine lebenswerte, offene Gesellschaft steht“
Wenn über Fluchtbewegungen nach Europa gesprochen wird, dann zumeist in einem Diskurs über Nützlichkeit, Ressourcen und Verteilung. Viel zu selten geht es dabei um den Reichtum, der jeder Menschenseele innewohnt, und um die fehlende Anerkennung an jene, die dieses Land nach dem Krieg wieder mit aufgebaut haben, die sogenannten Gastarbeiter zum Beispiel. Auch geht es nicht um die Menschenrechte der Flüchtenden. Rechte, die von der Europäischen Union anerkannt wurden, die in Reaktion auf die Shoa und die massenhafte Entrechtung und Entmenschlichung entstanden sind. Für diese Rechte einzustehen, ist keine Bürde oder ein Problem, das geschickt umgangen werden sollte, sondern ein Ideal, das für eine lebenswerte, offene Gesellschaft steht.
„Die diverse Demokratie, die die Teilhabe aller ermöglicht, ist nach dem Klimawandel die zweite Kernaufgabe für die Zukunft. Sie ist ein Dauerauftrag“
Eine Gesellschaft, in der die Einzelnen zählen, und in der niemand zurückgelassen wird. Eine Gesellschaft, in der Chancengerechtigkeit nicht nur auf dem Papier steht, sondern Realität ist und keine gläsernen Decken den Aufstieg nach ganz oben verhindern. An dieser Welt zu bauen, braucht Zeit und einen langen Atem. Und es braucht die Hände von vielen Menschen. Die aber haben wir. Und die Hoffnung, dass es immer besser werden wird, haben wir auch. Die diverse Demokratie, die die Teilhabe aller ermöglicht, ist nach dem Klimawandel die zweite Kernaufgabe für die Zukunft. Sie ist ein Dauerauftrag.
Nur, wie und mit wem fängt man da an? Vielleicht müssten wir zunächst einmal den Diskurs drehen: Wenn 16,6 Prozent der Bürgerinnen und Bürger nationalchauvinistisch sind, dann ist das eine Minderheit. Eine Mehrheitsgesellschaft, die zusammensteht, strahlt für mich die Hoffnung auf eine wahre, plurale Demokratie aus. Diese Mehrheitsgesellschaft macht für mich dieses Land zu meiner Heimat, macht Frankfurt zu meiner Heimat. Eine Stadt, in der ich frei leben und atmen kann. Und die mir immer wieder die Chance gibt, Einspruch zu rufen.
Info
Zur Person:
Dr. Nargess Eskandari-Grünberg wurde 1965 in Teheran geboren. Seit September 2021 ist sie Bürgermeisterin der Stadt Frankfurt am Main sowie Dezernentin für Diversität, Antidiskriminierung und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Eskandari-Grünberg wurde wegen ihrer Opposition gegen das Mullah-Regime im Iran politisch verfolgt. 1985 floh sie mit ihrer zweijährigen Tochter nach Frankfurt.
Die zahlreichen soziostrukturellen Veränderungen sind unhintergehbar. Sie haben eine neue Realität geschaffen, die einem ureigenen Anspruch der Demokratie eine neue Kraft verleiht: die Teilhabe aller zu ermöglichen. Das wird nicht nur von den Mitgliedern bislang marginalisierter Gruppen gefordert, es entspricht auch dem demokratischen Ideal. Ein Gegenbild zur Diktatur. Dort zählt nur, wer den Autokraten das Wort redet.
In Demokratien geht es um die Stimmen eines jeden Einzelnen. Aus ihnen wird ein vielstimmiger Chor mit je eigenen Geschichten voll von Unterschiedlichkeit und Individualität. Ein einziges Babylon. Eine Heimat. Erst recht für jene, die wie ich aus Diktaturen geflohen sind. Welch ein Glück wir haben, in einer Demokratie Unterschlupf gefunden zu haben, aus dem Haus gehen zu können, ohne darüber nachzudenken, welche Kleider wir tragen, was wir sagen oder welche Musik wir hören, welche Bücher wir lesen. Es ist eine Errungenschaft. Umso sorgenvoller blicken wir, die diese Errungenschaft nicht durch Geburt erhalten haben, sondern sie über leidvolle Umwege erlangen mussten, auf jene Teile der demokratischen Gesellschaft, die deren Pluralität als Gefährdung ansehen.
Es lässt sich nicht verleugnen, dass Jahre der rechten und verschwörungsideologischen Agitation ihre Spuren hinterlassen haben. Nicht nur an den Rändern, sondern auch mitten im Bürgertum. Folgt man der jüngsten Studie dazu, sehen wir einen tiefgreifenden Wandel. Gegenüber dem Vorjahr haben sich nationalchauvinistische Einstellungen nahezu verdoppelt auf 16,6 Prozent. Acht Prozent der Menschen in Deutschland haben ein manifest rechtsextremes Weltbild. Es droht etwas zu zerbrechen. Gleichzeitig erschüttert seit dem 7. Oktober eine Welle antisemitischer Kundgebungen und Übergriffe das Land. Als israelische Zivilistinnen und Zivilisten ermordet wurden, brach sich Judenhass auf unseren Straßen Bahn.
Dieses bedenkliche Gesamtbild war keineswegs ausgemacht. Noch vor kurzem sprachen Wissenschaftlerinnen wie Naika Foroutan von einer „postmigrantischen Gesellschaft“. Gemeint ist damit eine Gesellschaft, in der die Realität der Einwanderung weitgehend akzeptiert ist. Heute scheint es in der Bundespolitik vorrangig darum zu gehen, ob sich Migration abwehren lässt. Dabei ist klar: Die Probleme der Gesellschaft – seien sie wirtschaftlich, sozial oder ökologisch – lassen sich nicht mit restriktiveren Migrationsgesetzen oder Angriffen auf die plurale Demokratie lösen.
Niemandes Lebensqualität wird durch die Erleichterung von Abschiebungen oder härtere Grenzkontrollen verbessert. Deswegen sollte man sich von der Illusion verabschieden, dass die Rechten durch derlei Konzessionen an sie geschwächt werden. Im Gegenteil: Wer rechte Rhetorik bedient, legitimiert damit ihre Positionen. Der Krise ließe sich anders begegnen. Hass, Rassismus und Antisemitismus müssen wir uns stets entgegenstellen. Und wir sollten die positiven Aspekte unseres Zusammenlebens zur Politik erheben.
Ich denke, dass eine pragmatische Grundlage dafür die Menschenrechte sein können. Die Menschenrechte sind den meisten unmittelbar evident. Man versteht ihre Artikel, ohne rechtswissenschaftliche Abhandlungen darüber lesen zu müssen. Schon Kinder erkennen ihren universellen Charakter. Menschenrechte beschreiben zudem keinen Status quo, sondern einen Anspruch. Sie zur Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu machen, kann nicht bedeuten, sie einmal zu verkünden und damit zufrieden zu sein. Man muss sie immer wieder einklagen, im Handeln und auch der politischen Kommunikation.
Dieses hehre Ideal lässt sich konkretisieren in allen Ebenen politischen, administrativen und zivilgesellschaftlichen Handelns. Indem strukturelle Diskriminierungen abgebaut, indem Teilhabe und Empowerment gefördert werden und indem die Lebens- und Liebenswürdigkeit der pluralen Gesellschaft immer wieder hervorgehoben wird. Die plurale Gesellschaft steckt nur solange in der Krise, solange die Menschen nicht daran glauben. Sie müssen sie anerkennen und gestalten.
Wenn über Fluchtbewegungen nach Europa gesprochen wird, dann zumeist in einem Diskurs über Nützlichkeit, Ressourcen und Verteilung. Viel zu selten geht es dabei um den Reichtum, der jeder Menschenseele innewohnt, und um die fehlende Anerkennung an jene, die dieses Land nach dem Krieg wieder mit aufgebaut haben, die sogenannten Gastarbeiter zum Beispiel. Auch geht es nicht um die Menschenrechte der Flüchtenden. Rechte, die von der Europäischen Union anerkannt wurden, die in Reaktion auf die Shoa und die massenhafte Entrechtung und Entmenschlichung entstanden sind. Für diese Rechte einzustehen, ist keine Bürde oder ein Problem, das geschickt umgangen werden sollte, sondern ein Ideal, das für eine lebenswerte, offene Gesellschaft steht.
Eine Gesellschaft, in der die Einzelnen zählen, und in der niemand zurückgelassen wird. Eine Gesellschaft, in der Chancengerechtigkeit nicht nur auf dem Papier steht, sondern Realität ist und keine gläsernen Decken den Aufstieg nach ganz oben verhindern. An dieser Welt zu bauen, braucht Zeit und einen langen Atem. Und es braucht die Hände von vielen Menschen. Die aber haben wir. Und die Hoffnung, dass es immer besser werden wird, haben wir auch. Die diverse Demokratie, die die Teilhabe aller ermöglicht, ist nach dem Klimawandel die zweite Kernaufgabe für die Zukunft. Sie ist ein Dauerauftrag.
Nur, wie und mit wem fängt man da an? Vielleicht müssten wir zunächst einmal den Diskurs drehen: Wenn 16,6 Prozent der Bürgerinnen und Bürger nationalchauvinistisch sind, dann ist das eine Minderheit. Eine Mehrheitsgesellschaft, die zusammensteht, strahlt für mich die Hoffnung auf eine wahre, plurale Demokratie aus. Diese Mehrheitsgesellschaft macht für mich dieses Land zu meiner Heimat, macht Frankfurt zu meiner Heimat. Eine Stadt, in der ich frei leben und atmen kann. Und die mir immer wieder die Chance gibt, Einspruch zu rufen.
Zur Person:
Dr. Nargess Eskandari-Grünberg wurde 1965 in Teheran geboren. Seit September 2021 ist sie Bürgermeisterin der Stadt Frankfurt am Main sowie Dezernentin für Diversität, Antidiskriminierung und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Eskandari-Grünberg wurde wegen ihrer Opposition gegen das Mullah-Regime im Iran politisch verfolgt. 1985 floh sie mit ihrer zweijährigen Tochter nach Frankfurt.
20. April 2024, 12.31 Uhr
Nargess Eskandari-Grünberg
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