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Debatte um Kindergrundsicherung
„Menschen, die staatliche Hilfe empfangen, werden zu Feindbildern“
Während die Ampel über die Kindergrundsicherung streitet, versucht Ina Franzkewitz vom SOS Kinderdorf Frankfurt, Kinderarmut aufzufangen. Das JOURNAL hat mit ihr gesprochen.
Frau Franzkewitz, in der Ampel herrscht ein offener Streit über die geplante Kindergrundsicherung. Finanzminister Lindner will statt 12 Milliarden nur 2 Milliarden Euro investieren – jedoch die Wirtschaft mit dem „Wachstumschancengesetz“ subventionieren. Was macht das mit Ihnen?
In mir löst das Ärger und auch eine gewisse Scham aus, wie wir mit den jungen Menschen umgehen, die den Kern unserer zukünftigen Gesellschaft abbilden werden. Wir sprechen hier über die Voraussetzungen für gerechte Chancen auf Bildung und Teilhabe – und damit der Möglichkeit, als Erwachsene an der Gestaltung der Gesellschaft aktiv mitzuwirken und ein zufriedenes, selbstbestimmtes Leben führen zu können. Wenn wir das nicht ermöglichen, wird es immer mehr Menschen geben, die niemals ihre Fähigkeiten und Talente einbringen werden können, was für mich eine bedrückende Vorstellung ist.
Die FDP will generell bedürftigen Eltern nicht mehr Geld geben. Er verweist vielmehr auf „Verbesserung der Lebensperspektive“. Aber funktioniert die nicht in erster Linie über die finanziellen Mittel – Stichwort Partizipation?
Es sind zahlreiche Studien vorhanden, die das belegen, ja. Der freie Zugang zu Teilhabe und Partizipation ist oft durch finanzielle Barrieren versperrt. Um nur eines von diversen Beispielen zu nennen, ist die Auswahl von Sport- oder Freizeitangeboten für Familien, die neben den unmittelbaren Lebenshaltungskosten kaum oder kein Geld zur Verfügung haben, viel kleiner als für finanziell unabhängigere Lebensgemeinschaften.
Debatte um Kindergrundsicherung: „Mich stört vor allem auch das Menschenbild, das so vermittelt wird“
Was steckt Ihrer Meinung nach dahinter?
Mich stört vor allem auch das Menschenbild, das so vermittelt wird: diese Leute können eh nicht mit Geld umgehen, sie würden es unangemessen ausgeben, nicht im Sinne ihrer Kinder. Das macht mich wirklich sauer! Diese Haltung zeigt mir, dass diese Personen sich vermutlich noch nicht ausführlicher mit Menschen in prekären und herausfordernden Lebenssituationen beschäftigt haben, geschweige denn mit den Ursachen dafür. Pauschal zu unterstellen, dass arme Menschen nicht auch die tiefe Motivation haben, ihre Kinder bestmöglich zu unterstützen, empfinde ich als unheimlich realitätsfern, arrogant und übergriffig. Ich beobachte schon länger, dass z.B. Menschen, die staatliche Hilfen empfangen oder aber auch geflüchtete Personen zu Feindbildern stilisiert werden, und ich bin gelinde gesagt erschüttert, dass diese Verdrehung von Tatsachen Anklang findet.
Lindner betont den Zusammenhang zwischen Migration und Kinderarmt. Spielt er damit nicht bedürftige Gruppen gegeneinander aus?
Ja, das tut (nicht nur) er aus meiner Sicht, und ich empfinde das als beschämenden Versuch des Stimmenfangs in gewissen politischen Lagern. Jeder Person, die sich schon länger und ausführlicher mit dem Thema beschäftigt, ist klar, dass das Problem der sich immer weiter zuspitzenden Kinderarmut nicht erst vornehmlich seit 2015 existiert.
„Soziale Einrichtungen versuchen, die Auswirkungen von Kinderarmut mit allen Kräften aufzufangen“
Wie sieht die Praxis in Ihrer Einrichtung in Frankfurt aus?
In unserem Einrichtungsteil in Frankfurt betreiben wir ein Kinder- und Familienzentrum. Neben einer regulären Kita haben wir im Familienzentrum vor allem niedrigschwellige Angebote für benachteiligte Familien im Stadtteil. Niedrigschwellig meint, dass wir möglichst kaum oder keine Hürden zur Teilnahme bieten, seien es Kosten, eine bestimmte Art, auftreten zu müssen oder Vorkenntnisse mitzubringen. Wir erreichen damit dann vor allem Menschen, die auf der Suche nach Unterstützung eher negative Erfahrungen gemacht haben oder die erst gar keinen Zugang zu Hilfe bekommen haben.
Unsere Angebote haben immer auch ein Empowerment der Teilnehmenden zum Ziel: Sie zu etwas zu befähigen, ihren Selbstwert zu stärken, sie zu vernetzen etc. – unter anderem gibt es Sprachkurse, Elterntreffs, einen Seniorenkreis, Kinder- und erste Jugendangebote, einen Spendenmarkt, Beratungsleistungen, Angebote der Familienbildung und noch viel mehr. Außerdem arbeiten wir mit vielen Einrichtungen im näheren Umfeld zusammen, um uns noch breiter aufzustellen, denn die Bedarfe sind riesig und werden immer größer.
Kann man sagen, dass Einrichtungen wie die Ihre Defizite bezüglich Kinderarmut aus der Politik kompensieren?
Ja, das ist in meiner Wahrnehmung. Unter anderem soziale Einrichtungen versuchen, die Auswirkungen von z.B. Kinderarmut mit allen Kräften aufzufangen. Wir können aber häufig nur auf die bereits entstandenen Konsequenzen daraus reagieren. Eine im finanziellen Ausmaß angemessene Kindergrundsicherung würde auch auf die Ursachen zielen, und das wäre auf lange Sicht wichtig, sonst befinden wir uns in einer Endlosschleife von Missständen und den (ressourcenbedingt unzureichenden) Reaktionen darauf. Ich möchte da gerne auf die kürzlich veröffentlichte Studie zum Ausmaß der Kinderarmut in Deutschland des DIW im Auftrag der Diakonie verweisen: Gesunde und gut ausgebildete Kinder haben deutlich bessere Chancen auf ein selbstwirksames Leben und die Wahrscheinlichkeit der Abhängigkeit von staatlichen Hilfen ist wesentlich geringer.
Debatte um Kindergrundsicherung: Jedes fünfte Kind in Deutschland ist armutsgefährdet
Welche Forderungen haben Sie an die Politik – insbesondere auch in einer reichen Stadt wie Frankfurt?
Jedes fünfte Kind in Deutschland ist armutsgefährdet. Normalerweise sollte uns als Gesellschaft alles daran gelegen sein, etwas an diesem Umstand zu ändern, und wir sollten weder Kosten noch Mühen scheuen. Die Ermöglichung von gleichberechtigten Zukunftsperspektiven aller Kinder sollte ein absolutes Schwerpunktthema darstellen.
Einerseits weil es unseren Werten und unserer Verfassung entspricht (oder entsprechen sollte) und es aus meiner Sicht unsere Verpflichtung als Erwachsene für die nachkommenden Generationen ist – aber eben auch, weil ein Einsparen von Geldern im Jetzt einfach viel zu kurz gedacht ist. Kinder mit Chancen auf Teilhabe und Bildung sind die Investition in unsere Zukunft.
Info Zur Person: Ina Franzkewitz leitet seit 1. März 2021 die Frankfurter Einrichtung des SOS-Kinderdorf e.V. mit Einrichtungsteilen in Sossenheim (Kita und Familienzentrum) und im Rheingau-Taunus (Jugendhilfe). Die gebürtige Dortmunderin wohnt mit Hund im Taunus.
SOS Kinderdorf Frankfurt
In mir löst das Ärger und auch eine gewisse Scham aus, wie wir mit den jungen Menschen umgehen, die den Kern unserer zukünftigen Gesellschaft abbilden werden. Wir sprechen hier über die Voraussetzungen für gerechte Chancen auf Bildung und Teilhabe – und damit der Möglichkeit, als Erwachsene an der Gestaltung der Gesellschaft aktiv mitzuwirken und ein zufriedenes, selbstbestimmtes Leben führen zu können. Wenn wir das nicht ermöglichen, wird es immer mehr Menschen geben, die niemals ihre Fähigkeiten und Talente einbringen werden können, was für mich eine bedrückende Vorstellung ist.
Die FDP will generell bedürftigen Eltern nicht mehr Geld geben. Er verweist vielmehr auf „Verbesserung der Lebensperspektive“. Aber funktioniert die nicht in erster Linie über die finanziellen Mittel – Stichwort Partizipation?
Es sind zahlreiche Studien vorhanden, die das belegen, ja. Der freie Zugang zu Teilhabe und Partizipation ist oft durch finanzielle Barrieren versperrt. Um nur eines von diversen Beispielen zu nennen, ist die Auswahl von Sport- oder Freizeitangeboten für Familien, die neben den unmittelbaren Lebenshaltungskosten kaum oder kein Geld zur Verfügung haben, viel kleiner als für finanziell unabhängigere Lebensgemeinschaften.
Was steckt Ihrer Meinung nach dahinter?
Mich stört vor allem auch das Menschenbild, das so vermittelt wird: diese Leute können eh nicht mit Geld umgehen, sie würden es unangemessen ausgeben, nicht im Sinne ihrer Kinder. Das macht mich wirklich sauer! Diese Haltung zeigt mir, dass diese Personen sich vermutlich noch nicht ausführlicher mit Menschen in prekären und herausfordernden Lebenssituationen beschäftigt haben, geschweige denn mit den Ursachen dafür. Pauschal zu unterstellen, dass arme Menschen nicht auch die tiefe Motivation haben, ihre Kinder bestmöglich zu unterstützen, empfinde ich als unheimlich realitätsfern, arrogant und übergriffig. Ich beobachte schon länger, dass z.B. Menschen, die staatliche Hilfen empfangen oder aber auch geflüchtete Personen zu Feindbildern stilisiert werden, und ich bin gelinde gesagt erschüttert, dass diese Verdrehung von Tatsachen Anklang findet.
Lindner betont den Zusammenhang zwischen Migration und Kinderarmt. Spielt er damit nicht bedürftige Gruppen gegeneinander aus?
Ja, das tut (nicht nur) er aus meiner Sicht, und ich empfinde das als beschämenden Versuch des Stimmenfangs in gewissen politischen Lagern. Jeder Person, die sich schon länger und ausführlicher mit dem Thema beschäftigt, ist klar, dass das Problem der sich immer weiter zuspitzenden Kinderarmut nicht erst vornehmlich seit 2015 existiert.
„Soziale Einrichtungen versuchen, die Auswirkungen von Kinderarmut mit allen Kräften aufzufangen“
Wie sieht die Praxis in Ihrer Einrichtung in Frankfurt aus?
In unserem Einrichtungsteil in Frankfurt betreiben wir ein Kinder- und Familienzentrum. Neben einer regulären Kita haben wir im Familienzentrum vor allem niedrigschwellige Angebote für benachteiligte Familien im Stadtteil. Niedrigschwellig meint, dass wir möglichst kaum oder keine Hürden zur Teilnahme bieten, seien es Kosten, eine bestimmte Art, auftreten zu müssen oder Vorkenntnisse mitzubringen. Wir erreichen damit dann vor allem Menschen, die auf der Suche nach Unterstützung eher negative Erfahrungen gemacht haben oder die erst gar keinen Zugang zu Hilfe bekommen haben.
Unsere Angebote haben immer auch ein Empowerment der Teilnehmenden zum Ziel: Sie zu etwas zu befähigen, ihren Selbstwert zu stärken, sie zu vernetzen etc. – unter anderem gibt es Sprachkurse, Elterntreffs, einen Seniorenkreis, Kinder- und erste Jugendangebote, einen Spendenmarkt, Beratungsleistungen, Angebote der Familienbildung und noch viel mehr. Außerdem arbeiten wir mit vielen Einrichtungen im näheren Umfeld zusammen, um uns noch breiter aufzustellen, denn die Bedarfe sind riesig und werden immer größer.
Kann man sagen, dass Einrichtungen wie die Ihre Defizite bezüglich Kinderarmut aus der Politik kompensieren?
Ja, das ist in meiner Wahrnehmung. Unter anderem soziale Einrichtungen versuchen, die Auswirkungen von z.B. Kinderarmut mit allen Kräften aufzufangen. Wir können aber häufig nur auf die bereits entstandenen Konsequenzen daraus reagieren. Eine im finanziellen Ausmaß angemessene Kindergrundsicherung würde auch auf die Ursachen zielen, und das wäre auf lange Sicht wichtig, sonst befinden wir uns in einer Endlosschleife von Missständen und den (ressourcenbedingt unzureichenden) Reaktionen darauf. Ich möchte da gerne auf die kürzlich veröffentlichte Studie zum Ausmaß der Kinderarmut in Deutschland des DIW im Auftrag der Diakonie verweisen: Gesunde und gut ausgebildete Kinder haben deutlich bessere Chancen auf ein selbstwirksames Leben und die Wahrscheinlichkeit der Abhängigkeit von staatlichen Hilfen ist wesentlich geringer.
Welche Forderungen haben Sie an die Politik – insbesondere auch in einer reichen Stadt wie Frankfurt?
Jedes fünfte Kind in Deutschland ist armutsgefährdet. Normalerweise sollte uns als Gesellschaft alles daran gelegen sein, etwas an diesem Umstand zu ändern, und wir sollten weder Kosten noch Mühen scheuen. Die Ermöglichung von gleichberechtigten Zukunftsperspektiven aller Kinder sollte ein absolutes Schwerpunktthema darstellen.
Einerseits weil es unseren Werten und unserer Verfassung entspricht (oder entsprechen sollte) und es aus meiner Sicht unsere Verpflichtung als Erwachsene für die nachkommenden Generationen ist – aber eben auch, weil ein Einsparen von Geldern im Jetzt einfach viel zu kurz gedacht ist. Kinder mit Chancen auf Teilhabe und Bildung sind die Investition in unsere Zukunft.
SOS Kinderdorf Frankfurt
24. August 2023, 18.20 Uhr
Katja Thorwarth
Katja Thorwarth
Die gebürtige Frankfurterin studierte an der Goethe-Uni Soziologie, Politik und Sozialpsychologie. Ihre journalistischen Schwerpunkte sind Politik, politisches Feuilleton und Meinung. Seit März 2023 Leitung online beim JOURNAL FRANKFURT. Mehr von Katja
Thorwarth >>
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