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Altersarmut in Frankfurt
„Viele Betroffene schämen sich, Grundsicherung zu beantragen“
In Hessen beantragen so viele alte Menschen wie noch nie Grundsicherung. 13 900 waren es im September 2023 allein in Frankfurt. Das JOURNAL spricht mit Philipp Stielow vom VdK Hessen.
JOURNAL: Wie viele Menschen sind derzeit in Hessen von Altersarmut bedroht?
Philipp Stielow: Die Armutsgefährdungsquote lag 2021 nach Zahlen des Statistischen Bundesamts bei 17,7 Prozent (2020: 17,3) in der Altersgruppe 65 Jahre und älter, Tendenz steigend. Nach Zahlen des Statistischen Landesamts beziehen in Hessen auch immer mehr Menschen Grundsicherung. 2022 waren es rund 103 500, so viele wie noch nie seit Einführung der Grundsicherung vor zwanzig Jahren. Diese beziehen aktuell überwiegend Rentnerinnen und Rentner, Frauen sind dabei besonders betroffen.
Was ist die Grundsicherung und wer hat Anspruch auf sie?
Grundsicherung im Alter und bei voller Erwerbsminderung können Bedürftige bekommen, wenn sie entweder die Regelaltersgrenze – das ist der Zeitpunkt, an dem man die reguläre Altersrente bezieht – erreicht haben oder dauerhaft voll erwerbsgemindert und mindestens 18 Jahre alt sind. In der Grundsicherung sind alle Leistungen enthalten, die auch nach dem Sozialhilferecht gezahlt werden. Allerdings wird, anders als bei der Sozialhilfe, erst dann auf das Einkommen der Kinder oder Eltern zurückgegriffen, wenn es höher liegt als 100 000 Euro im Jahr.
Hessen: Mehr Menschen denn je beziehen Grundsicherung im Alter
Warum sind die Zahlen höher als in vergangenen Jahren?
Die auch gewinngetriebene, seit 2022 dauerhaft hohe Inflation hat für massive Preissteigerungen vor allem in den Bereichen Lebensmittel und Energie gesorgt. Derzeit mag die Teuerungsrate einen moderaten Rückgang verzeichnen, die Preise verharren aber auf sehr hohem Niveau. Menschen mit kleiner Rente bringt dies an den Rand ihrer finanziellen Belastbarkeit. Immer mehr Ältere sind daher auf staatliche Unterstützung, also Grundsicherung sowie Hilfsangebote wie die der Tafeln angewiesen.
Während Pensionäre einen Inflationsausgleich in Höhe von 3000 Euro bekommen sollen, gehen Rentnerinnen und Rentner wohl leer aus, die Bundesregierung plant eine Sonderzahlung zum Inflationsausgleich für Rentner derzeit nicht. Dies sieht der VdK kritisch, denn die Inflation hat Rentnerinnen und Rentner trotz der Rentenanpassung im Juli um 4,39 Prozent im Westen bzw. 5,86 Prozent im Osten ärmer gemacht.
Bundesregierung plant keinen Inflationsausgleich für Rentnerinnen und Rentner
Warum bekommen Pensionäre – d.h. ehemalige Beamte, Berufssoldaten, Richter und Dienstordnungsangestellte – einen Inflationsausgleich, Rentnerinnen und Rentner jedoch nicht?
Gute Frage. Die Rentnerinnen und Rentner wurden ja auch schon bei der Energiepreispauschale vergessen. Erst nach massiven Protesten – auch der VdK hat diese Forderung immer wieder erhoben und sogar eine Musterklage vor dem Bundesverfassungsgericht angestrebt – hat die Bundesregierung zugestimmt, auch den Rentnerinnen und Rentnern diese 300 Euro auszuzahlen. Dass pensionierte Beamte eine Prämie erhalten, hat formal den Grund, dass sie in einem anderen Versorgungssystem sind und nicht in der Rentenkasse. Ansonsten ist das ist eine Entscheidung der Regierung.
Warum sind vor allem Frauen von Altersarmut betroffen?
Teilzeitbeschäftigungen, Niedriglohn, lange Erwerbsunterbrechungen, z.B. wegen Kindererziehung oder Pflege, sowie Lohndiskriminierung führen im Alter zu einer Mini-Rente, die nicht zum Leben ausreicht. Sogar eine Vollzeiterwerbstätigkeit über 40 Jahre hinweg schützt Frauen bei schlechter Bezahlung nicht vor Altersarmut.
„Viele Betroffene schämen sich, Grundsicherung zu beantragen“
Was können Privatpersonen machen, um der eigenen Altersarmut vorzubeugen?
Die staatliche Unterstützung beantragen, auf die Anspruch besteht, bzw. den Anspruch prüfen lassen. Die Faustregel der Deutschen Rentenversicherung: Liegt das gesamte Einkommen unter 973 Euro, sollte man prüfen lassen, ob Anspruch auf Grundsicherung besteht. Viele Betroffene schämen sich, Grundsicherung zu beantragen und verzichten deswegen auf wichtige Hilfen.
Was fordern Sie von der Politik?
Kleine Renten sind das Resultat von schlecht bezahlten Jobs, Arbeitslosigkeit, Krankheit, aber auch Auszeiten im Job wegen der Kindererziehung oder der Pflege von Angehörigen. Die Forderungen des VdK richten sich dahingehend.
Info
Alle Forderungen auf einen Blick
Mindestlohn auf 14 Euro erhöhen
Erhöhung des Rentenniveaus auf 53 Prozent
Einführung einer „Rente für alle“, also ein Rentenversicherungssystem, in die alle einzahlen, auch Politiker, Selbstständige und Beamte
Sozialberichterstattung in Hessen jährlich durchführen
Tarifbindung stärken und Niedriglohnsektor eindämmen
Schaffen von bezahlbarem und bedarfsgerechtem Wohnraum
Bezahlbarer und barrierefreier ÖPNV
Unterstützung bei Energiekosten
Wer sehr viel Geld hat oder sein Unternehmen international ausrichten kann, zahlt in Deutschland vergleichsweise wenig Steuern. Dieses Problem müsste endlich angegangen werden.
Info
Zur Person: Philipp Stielow ist Pressesprecher des Sozialverbandes VdK Hessen-Thüringen. Der VdK ist der größte Sozialverband in Deutschland und setzt sich für soziale Gerechtigkeit, Teilhabe und Chancengleichheit für alle Bürgerinnen und Bürger ein.
Philipp Stielow: Die Armutsgefährdungsquote lag 2021 nach Zahlen des Statistischen Bundesamts bei 17,7 Prozent (2020: 17,3) in der Altersgruppe 65 Jahre und älter, Tendenz steigend. Nach Zahlen des Statistischen Landesamts beziehen in Hessen auch immer mehr Menschen Grundsicherung. 2022 waren es rund 103 500, so viele wie noch nie seit Einführung der Grundsicherung vor zwanzig Jahren. Diese beziehen aktuell überwiegend Rentnerinnen und Rentner, Frauen sind dabei besonders betroffen.
Was ist die Grundsicherung und wer hat Anspruch auf sie?
Grundsicherung im Alter und bei voller Erwerbsminderung können Bedürftige bekommen, wenn sie entweder die Regelaltersgrenze – das ist der Zeitpunkt, an dem man die reguläre Altersrente bezieht – erreicht haben oder dauerhaft voll erwerbsgemindert und mindestens 18 Jahre alt sind. In der Grundsicherung sind alle Leistungen enthalten, die auch nach dem Sozialhilferecht gezahlt werden. Allerdings wird, anders als bei der Sozialhilfe, erst dann auf das Einkommen der Kinder oder Eltern zurückgegriffen, wenn es höher liegt als 100 000 Euro im Jahr.
Warum sind die Zahlen höher als in vergangenen Jahren?
Die auch gewinngetriebene, seit 2022 dauerhaft hohe Inflation hat für massive Preissteigerungen vor allem in den Bereichen Lebensmittel und Energie gesorgt. Derzeit mag die Teuerungsrate einen moderaten Rückgang verzeichnen, die Preise verharren aber auf sehr hohem Niveau. Menschen mit kleiner Rente bringt dies an den Rand ihrer finanziellen Belastbarkeit. Immer mehr Ältere sind daher auf staatliche Unterstützung, also Grundsicherung sowie Hilfsangebote wie die der Tafeln angewiesen.
Während Pensionäre einen Inflationsausgleich in Höhe von 3000 Euro bekommen sollen, gehen Rentnerinnen und Rentner wohl leer aus, die Bundesregierung plant eine Sonderzahlung zum Inflationsausgleich für Rentner derzeit nicht. Dies sieht der VdK kritisch, denn die Inflation hat Rentnerinnen und Rentner trotz der Rentenanpassung im Juli um 4,39 Prozent im Westen bzw. 5,86 Prozent im Osten ärmer gemacht.
Warum bekommen Pensionäre – d.h. ehemalige Beamte, Berufssoldaten, Richter und Dienstordnungsangestellte – einen Inflationsausgleich, Rentnerinnen und Rentner jedoch nicht?
Gute Frage. Die Rentnerinnen und Rentner wurden ja auch schon bei der Energiepreispauschale vergessen. Erst nach massiven Protesten – auch der VdK hat diese Forderung immer wieder erhoben und sogar eine Musterklage vor dem Bundesverfassungsgericht angestrebt – hat die Bundesregierung zugestimmt, auch den Rentnerinnen und Rentnern diese 300 Euro auszuzahlen. Dass pensionierte Beamte eine Prämie erhalten, hat formal den Grund, dass sie in einem anderen Versorgungssystem sind und nicht in der Rentenkasse. Ansonsten ist das ist eine Entscheidung der Regierung.
Warum sind vor allem Frauen von Altersarmut betroffen?
Teilzeitbeschäftigungen, Niedriglohn, lange Erwerbsunterbrechungen, z.B. wegen Kindererziehung oder Pflege, sowie Lohndiskriminierung führen im Alter zu einer Mini-Rente, die nicht zum Leben ausreicht. Sogar eine Vollzeiterwerbstätigkeit über 40 Jahre hinweg schützt Frauen bei schlechter Bezahlung nicht vor Altersarmut.
Was können Privatpersonen machen, um der eigenen Altersarmut vorzubeugen?
Die staatliche Unterstützung beantragen, auf die Anspruch besteht, bzw. den Anspruch prüfen lassen. Die Faustregel der Deutschen Rentenversicherung: Liegt das gesamte Einkommen unter 973 Euro, sollte man prüfen lassen, ob Anspruch auf Grundsicherung besteht. Viele Betroffene schämen sich, Grundsicherung zu beantragen und verzichten deswegen auf wichtige Hilfen.
Was fordern Sie von der Politik?
Kleine Renten sind das Resultat von schlecht bezahlten Jobs, Arbeitslosigkeit, Krankheit, aber auch Auszeiten im Job wegen der Kindererziehung oder der Pflege von Angehörigen. Die Forderungen des VdK richten sich dahingehend.
Alle Forderungen auf einen Blick
Mindestlohn auf 14 Euro erhöhen
Erhöhung des Rentenniveaus auf 53 Prozent
Einführung einer „Rente für alle“, also ein Rentenversicherungssystem, in die alle einzahlen, auch Politiker, Selbstständige und Beamte
Sozialberichterstattung in Hessen jährlich durchführen
Tarifbindung stärken und Niedriglohnsektor eindämmen
Schaffen von bezahlbarem und bedarfsgerechtem Wohnraum
Bezahlbarer und barrierefreier ÖPNV
Unterstützung bei Energiekosten
Wer sehr viel Geld hat oder sein Unternehmen international ausrichten kann, zahlt in Deutschland vergleichsweise wenig Steuern. Dieses Problem müsste endlich angegangen werden.
Zur Person: Philipp Stielow ist Pressesprecher des Sozialverbandes VdK Hessen-Thüringen. Der VdK ist der größte Sozialverband in Deutschland und setzt sich für soziale Gerechtigkeit, Teilhabe und Chancengleichheit für alle Bürgerinnen und Bürger ein.
14. November 2023, 11.20 Uhr
Sina Claßen
Sina Claßen
Studium der Publizistik und des Öffentlichen Rechts an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Seit Oktober 2023 beim Journal Frankfurt. Mehr von Sina
Claßen >>
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