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9. November
„Der Begriff 'Kristallnacht' verharmlost den Pogrom“
Am 9. November gedenken wir der Pogrome der Nationalsozialisten. Wie sah der Terror in Frankfurt aus? Das JOURNAL sprach aus diesem Anlass mit Renata Berlin aus dem Vorstand der Initiative 9. November.
Frau Berlin, am 9. November erinnern wir uns an die Pogrome der Nazis, die in ganz Deutschland gegen jüdische Menschen stattfanden. Wie wurde der Terror in Frankfurt erlebt?
Renata Berlin: In den frühen Morgenstunden des 10. November wurden von der Kreisleitung der NSDAP Frankfurt die SA-Verbände aufgerufen, sich an den Juden für den Tod des deutschen Diplomaten Ernst von Rath durch den polnisch-jüdischen Widerstandskämpfer Herschel Grynspan zu rächen. Laut Dokumenten waren Parteifunktionäre im Zivil auf den Straßen, sie spielten sich als das Volk auf und schrien „Deutschland erwache“ und „Juda verrecke“. Im Lauf des Vormittags wälzten sich die dadurch aufgeputschten Menschenmassen durch die Straßen, griffen die jüdischen Geschäfte an, zerschlugen die Scheiben, stürmten sie, plünderten. Auch jüdische Wohnungen wurden angegriffen, Möbel, Einrichtungen, Waren wurden auf die Straße geschleudert und vernichtet.
November-Pogrom in Frankfurt: Synagogen gestürmt und angezündet
Synagogen wurden gestürmt, die Kultus-Gegenstände rausgeschmissen, verwüstet und (dann auch) die Synagogen angezündet. Die Feuerwehrleute waren zugegen, hatten aber nur die Aufgabe aufzupassen, dass das Feuer nicht auf die umliegenden Gebäude überschlägt. Gleich am 10. und 11. November wurden etwa 3000 jüdische Männer verhaftet und zur Festhalle gebracht und von dort in die Konzentrationslager Buchenwald und Dachau transportiert.
Warum ist die Bezeichnung „Reichskristallnacht“ eine Verharmlosung für Sie?
In dem November-Pogrom sind die jüdischen Geschäfte von der SS mit Steinen, Stöcken und anderen Gegenständen zerschlagen worden, der Boden war danach übersät mit Glasscherben. Deswegen hat man jahrelang diesen Pogrom „Kristallnacht“ genannt. Aber im Begriff „Kristallnacht“ ist der Begriff „Kristall“ beinhaltet. Mit Kristall verbinden die Menschen zuerst etwas Schönes, Kristalllüster, Kristallgläser und ähnliches. Einen Pogrom so zu nennen bedeutet, ihn zu verniedlichen, zu verharmlosen. Kristallgläser … Man hätte dann das Gefühl, es wäre ja nicht so schlimm gewesen. Es war aber schlimm.
Der VVN BdA Frankfurt organisiert am 10. November eine Gedenkfeier vor der Festhalle
Die Frankfurter Festhalle war die zentrale Sammelstelle, um 3000 jüdische Männer in die Konzentrationslager nach Buchenwald und Dachau zu deportieren. Sollte man angesichts dieser historischen Tatsache nicht genau hinschauen, wer in der Festhalle auftreten darf?
Die Festhalle gehört der Frankfurter Messegesellschaft und ist damit ein Teil eines kommerziellen Betriebes. Für mich bedeutet das, dass dort kommerzielle Veranstaltungen stattfinden, die die Messegesellschaft verantwortet.
An dem Ort als zentrale Sammelstelle für den Transport der jüdischen Männer in die Lager erinnert eine Tafel an der Festhalle selbst und eine zweite auf dem Vorplatz draußen außerhalb des Messegeländes. Seit vielen Jahren organisiert der VVN BdA Frankfurt am 10. November eine Gedenkfeier draußen vor der Festhalle, sie waren auch diejenigen, die in zähen, langwierigen Verhandlungen der Stadt Frankfurt diese zweite Tafel abgerungen haben. Für mich wäre es viel wichtiger, wenn auch andere Menschen zu dieser Gedenkfeier kommen würden.
@Initiative 9. November
Wie ist es ganz allgemein um die Erinnerungskultur in Frankfurt bestellt?
In Frankfurt gibt es viele Gruppen, die seit Jahren daran arbeiten, dass die Opfer der Nazidiktatur nicht vergessen werden. Diese Gruppen erinnern an die verschiedenen Opfergruppen: Homosexuelle, „Asoziale“, Euthanasieopfer, Zeugen Jehovas, Sinti und Roma, Kommunisten, Widerstandskämpfer, Juden. Seit ungefähr vier Jahren haben sich diese Organisationen zu einem „Netzwerk Erinnerungskultur“ zusammengetan, machen jedes Jahr eine Tagung, dieses Jahr am 18. November die Tagung „Leben als Verfolgte in der Stadt der Täter“.
Gruppen in Frankfurt erinnern an Opfer der Nazidiktatur
Was leistet hier Ihre Initiative?
Wir, die Initiative 9. November e.V., haben in unserem Sitz, dem Hochbunker an der Friedberger Anlage, mehrere Ausstellungen aufgebaut, in denen wir z.B. das jüdische Leben vor dem Krieg, in der Zeit 1933-1939, während und nach dem Krieg zeigen. In einer Ausstellung gibt es die virtuelle Rekonstruktion von etwa 20 im November-Pogrom zerstörten Synagogen, eine andere zeigt das jüdische Musikerleben in Frankfurt während der Nazi-Herrschaft. Außerdem organisieren wir Veranstaltungen, die damit zusammenhängen.
Info
Am 9. November werden am Ort der zerstörten Synagoge der Israelitischen Religionsgesellschaft um 17 Uhr Kerzen angezündet. Die Initiative wird eine kurze Ansprache halten. Mit Beginn der Dämmerung wird der World Jewish Congress eine Fassadenprojektion mit der virtuellen Rekonstruktion (TU Darmstadt, FG Digitales Gestalten) der Synagoge der Israelitischen Religionsgesellschaft an die Außenwand des Hochbunkers zeigen. Die Ausstellungen im Hochbunker sind ab 17 Uhr geöffnet.
Aktuell haben wir eine Veranstaltungsreihe zu Gedenkstätten in Deutschland unter dem Titel „Orte der Verstörung - Orte der Erinnerung“. Unser besonderes Ziel ist es, Kinder und Jugendliche zu erreichen, denn wir glauben, dass gerade unsere Ausstellungen an diesem besonderen verstörenden Ort, dem Bunker, gebaut auf den Grundmauern der zerstörten Synagoge der Israelitischen Religionsgesellschaft, eine gute Möglichkeit dazu bieten. Lehrkräfte mit ihren Klassen/Kursen kommen zu den Ausstellungen und arbeiten darin am Beispiel Frankfurt zu verschiedenen Aspekten der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden. Wir haben die Zusammenarbeit mit den Schulen und dem Staatlichen Schulamt intensiviert, es gibt Kooperationen mit einigen Schulen.
„Ich bin der Auffassung, dass es in Frankfurt für jüdische Menschen weiterhin möglich ist, ohne Angst zu leben“
Können sich jüdische Menschen in Frankfurt noch sicher fühlen, betrachtet man die Vorfälle rund um den Terror der Hamas in der Stadt?
Ich bin Jüdin und ich persönlich habe keine Angst. Ich bin der Auffassung, dass es in Frankfurt für jüdische Menschen weiterhin möglich ist, ohne Angst zu leben, wie bisher. Wie bisher bedeutet natürlich, dass die Synagoge, die Jüdische Gemeinde, die Lichtigfeld-Schule weiter wie bisher von der Polizei geschützt werden. Das ist so schon seit vielen Jahren. Aber für Menschen sehe ich die Gefahr nicht, anders als in anderen Städten, z.B. Berlin-Neukölln. Ich erlebe Frankfurt und die Frankfurter als offene Stadt und unterstützende Menschen, die auch in Konfliktsituationen eingreifen und andere schützen.
Allerdings ist die Angst etwas Persönliches. Wir alle haben Zugang zu verschiedenen Medien und sehen, was für Nachrichten, Posts, Bilder es im Netz gibt. Das alles geht in unsere Köpfe und wir unterscheiden oft nicht, ob es hier oder woanders ist. Deswegen verstehe ich es, wenn jüdische Eltern ihren Kindern z.B. sagen, sie sollen den Davidstern nicht offen tragen.
Info
Zur Person: Renata Berlin, 72, ist Jüdin, Nachkommin der Holocaust-Opfer, die 1968 aufgrund einer antisemitischen Welle aus Polen nach Deutschland emigriert sind. Sie war bis zu ihrer Pensionierung Mathematik- und Physik-Lehrerin und zuletzt Frauenbeauftragte für Lehrkräfte. Sie ist Vorstand der Initiative 9. November.
Renata Berlin: In den frühen Morgenstunden des 10. November wurden von der Kreisleitung der NSDAP Frankfurt die SA-Verbände aufgerufen, sich an den Juden für den Tod des deutschen Diplomaten Ernst von Rath durch den polnisch-jüdischen Widerstandskämpfer Herschel Grynspan zu rächen. Laut Dokumenten waren Parteifunktionäre im Zivil auf den Straßen, sie spielten sich als das Volk auf und schrien „Deutschland erwache“ und „Juda verrecke“. Im Lauf des Vormittags wälzten sich die dadurch aufgeputschten Menschenmassen durch die Straßen, griffen die jüdischen Geschäfte an, zerschlugen die Scheiben, stürmten sie, plünderten. Auch jüdische Wohnungen wurden angegriffen, Möbel, Einrichtungen, Waren wurden auf die Straße geschleudert und vernichtet.
Synagogen wurden gestürmt, die Kultus-Gegenstände rausgeschmissen, verwüstet und (dann auch) die Synagogen angezündet. Die Feuerwehrleute waren zugegen, hatten aber nur die Aufgabe aufzupassen, dass das Feuer nicht auf die umliegenden Gebäude überschlägt. Gleich am 10. und 11. November wurden etwa 3000 jüdische Männer verhaftet und zur Festhalle gebracht und von dort in die Konzentrationslager Buchenwald und Dachau transportiert.
Warum ist die Bezeichnung „Reichskristallnacht“ eine Verharmlosung für Sie?
In dem November-Pogrom sind die jüdischen Geschäfte von der SS mit Steinen, Stöcken und anderen Gegenständen zerschlagen worden, der Boden war danach übersät mit Glasscherben. Deswegen hat man jahrelang diesen Pogrom „Kristallnacht“ genannt. Aber im Begriff „Kristallnacht“ ist der Begriff „Kristall“ beinhaltet. Mit Kristall verbinden die Menschen zuerst etwas Schönes, Kristalllüster, Kristallgläser und ähnliches. Einen Pogrom so zu nennen bedeutet, ihn zu verniedlichen, zu verharmlosen. Kristallgläser … Man hätte dann das Gefühl, es wäre ja nicht so schlimm gewesen. Es war aber schlimm.
Die Frankfurter Festhalle war die zentrale Sammelstelle, um 3000 jüdische Männer in die Konzentrationslager nach Buchenwald und Dachau zu deportieren. Sollte man angesichts dieser historischen Tatsache nicht genau hinschauen, wer in der Festhalle auftreten darf?
Die Festhalle gehört der Frankfurter Messegesellschaft und ist damit ein Teil eines kommerziellen Betriebes. Für mich bedeutet das, dass dort kommerzielle Veranstaltungen stattfinden, die die Messegesellschaft verantwortet.
An dem Ort als zentrale Sammelstelle für den Transport der jüdischen Männer in die Lager erinnert eine Tafel an der Festhalle selbst und eine zweite auf dem Vorplatz draußen außerhalb des Messegeländes. Seit vielen Jahren organisiert der VVN BdA Frankfurt am 10. November eine Gedenkfeier draußen vor der Festhalle, sie waren auch diejenigen, die in zähen, langwierigen Verhandlungen der Stadt Frankfurt diese zweite Tafel abgerungen haben. Für mich wäre es viel wichtiger, wenn auch andere Menschen zu dieser Gedenkfeier kommen würden.
@Initiative 9. November
Wie ist es ganz allgemein um die Erinnerungskultur in Frankfurt bestellt?
In Frankfurt gibt es viele Gruppen, die seit Jahren daran arbeiten, dass die Opfer der Nazidiktatur nicht vergessen werden. Diese Gruppen erinnern an die verschiedenen Opfergruppen: Homosexuelle, „Asoziale“, Euthanasieopfer, Zeugen Jehovas, Sinti und Roma, Kommunisten, Widerstandskämpfer, Juden. Seit ungefähr vier Jahren haben sich diese Organisationen zu einem „Netzwerk Erinnerungskultur“ zusammengetan, machen jedes Jahr eine Tagung, dieses Jahr am 18. November die Tagung „Leben als Verfolgte in der Stadt der Täter“.
Was leistet hier Ihre Initiative?
Wir, die Initiative 9. November e.V., haben in unserem Sitz, dem Hochbunker an der Friedberger Anlage, mehrere Ausstellungen aufgebaut, in denen wir z.B. das jüdische Leben vor dem Krieg, in der Zeit 1933-1939, während und nach dem Krieg zeigen. In einer Ausstellung gibt es die virtuelle Rekonstruktion von etwa 20 im November-Pogrom zerstörten Synagogen, eine andere zeigt das jüdische Musikerleben in Frankfurt während der Nazi-Herrschaft. Außerdem organisieren wir Veranstaltungen, die damit zusammenhängen.
Am 9. November werden am Ort der zerstörten Synagoge der Israelitischen Religionsgesellschaft um 17 Uhr Kerzen angezündet. Die Initiative wird eine kurze Ansprache halten. Mit Beginn der Dämmerung wird der World Jewish Congress eine Fassadenprojektion mit der virtuellen Rekonstruktion (TU Darmstadt, FG Digitales Gestalten) der Synagoge der Israelitischen Religionsgesellschaft an die Außenwand des Hochbunkers zeigen. Die Ausstellungen im Hochbunker sind ab 17 Uhr geöffnet.
Aktuell haben wir eine Veranstaltungsreihe zu Gedenkstätten in Deutschland unter dem Titel „Orte der Verstörung - Orte der Erinnerung“. Unser besonderes Ziel ist es, Kinder und Jugendliche zu erreichen, denn wir glauben, dass gerade unsere Ausstellungen an diesem besonderen verstörenden Ort, dem Bunker, gebaut auf den Grundmauern der zerstörten Synagoge der Israelitischen Religionsgesellschaft, eine gute Möglichkeit dazu bieten. Lehrkräfte mit ihren Klassen/Kursen kommen zu den Ausstellungen und arbeiten darin am Beispiel Frankfurt zu verschiedenen Aspekten der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden. Wir haben die Zusammenarbeit mit den Schulen und dem Staatlichen Schulamt intensiviert, es gibt Kooperationen mit einigen Schulen.
Können sich jüdische Menschen in Frankfurt noch sicher fühlen, betrachtet man die Vorfälle rund um den Terror der Hamas in der Stadt?
Ich bin Jüdin und ich persönlich habe keine Angst. Ich bin der Auffassung, dass es in Frankfurt für jüdische Menschen weiterhin möglich ist, ohne Angst zu leben, wie bisher. Wie bisher bedeutet natürlich, dass die Synagoge, die Jüdische Gemeinde, die Lichtigfeld-Schule weiter wie bisher von der Polizei geschützt werden. Das ist so schon seit vielen Jahren. Aber für Menschen sehe ich die Gefahr nicht, anders als in anderen Städten, z.B. Berlin-Neukölln. Ich erlebe Frankfurt und die Frankfurter als offene Stadt und unterstützende Menschen, die auch in Konfliktsituationen eingreifen und andere schützen.
Allerdings ist die Angst etwas Persönliches. Wir alle haben Zugang zu verschiedenen Medien und sehen, was für Nachrichten, Posts, Bilder es im Netz gibt. Das alles geht in unsere Köpfe und wir unterscheiden oft nicht, ob es hier oder woanders ist. Deswegen verstehe ich es, wenn jüdische Eltern ihren Kindern z.B. sagen, sie sollen den Davidstern nicht offen tragen.
Zur Person: Renata Berlin, 72, ist Jüdin, Nachkommin der Holocaust-Opfer, die 1968 aufgrund einer antisemitischen Welle aus Polen nach Deutschland emigriert sind. Sie war bis zu ihrer Pensionierung Mathematik- und Physik-Lehrerin und zuletzt Frauenbeauftragte für Lehrkräfte. Sie ist Vorstand der Initiative 9. November.
9. November 2023, 07.30 Uhr
Katja Thorwarth
Katja Thorwarth
Die gebürtige Frankfurterin studierte an der Goethe-Uni Soziologie, Politik und Sozialpsychologie. Ihre journalistischen Schwerpunkte sind Politik, politisches Feuilleton und Meinung. Seit März 2023 Leitung online beim JOURNAL FRANKFURT. Mehr von Katja
Thorwarth >>
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