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Der erfundene Sex-Mob auf der Freßgass‘:

Wie digitale Stämme Fake News verbreiten

Michael Seemann hat untersucht, wie sich Fake News in sozialen Medien verbreiten. Eines der untersuchten Beispiele war die Geschichte vom „Sex-Mob in der Freßgass‘“. Ein Interview.
Anfang Februar war die Aufregung in der Stadt groß. Ein „Sex-Mob“ habe an Silvester auf der Freßgass‘ getobt, titelte die Bild. Was als „Flüchtlingsdebatte“ begann, wurde schnell eine „Fake News Debatte“. Denn weder Stadt noch Polizei und andere Freßgass’-Besucher hatten was von den Ausschreitungen mitbekommen. Die Staatsanwaltschaft ermittelte schließlich gegen den Gastronomen Jan Mai, der die Story losgetreten hatte, vor Kurzem wurde Anklage erhoben.

Die Bild-Zeitung zeigte Demut und entschuldigte sich im Blatt bei ihren Lesern. Doch die Geschichte war in der Welt und hatte ihre Runden gedreht. Deshalb lohnt es sich, die Geschichte noch einmal zu untersuchen. In ihrer Studie „Digitaler Tribalismus und Fake News“ hat der Kulturwissenschaftler Michael Seemann die Verbreitung von Fake News untersucht. Dabei haben sie sich auch mit der Freßgass’-Geschichte beschäftigt. Wir haben uns mit Michael Seemann über das Thema unterhalten:

Journal Frankfurt: Bei Ihrer Untersuchung ging es auch um den „Sex-Mob in der Freßgass“ – mit welchem Ergebnis?
Michael Seemann: Das Ergebnis war im Kern dasselbe, wie bei allen Fake News, die wir untersucht haben: Diejenigen, die die Fake News verbreitet haben, sind völlig andere Menschen, als die, die hinterher die Richtigstellung verbreitet haben. Der Frankfurter Fall ist insofern speziell, weil die Fake News hier von einem klassischen Massenmedium, der Bild-Zeitung, ausgegangen ist.

Was bedeutet das?
In unserem Fall bedeutet das, dass da im Nachhinein viel editiert wurde. Die Bild-Zeitung hat nicht nur den Artikel komplett von der Website genommen, sondern auch den Tweet gelöscht. Damit fehlen uns alle Retweets des Originalartikels. Auch Spiegel Online hatte ursprünglich viel reißerischer geschrieben und hinterher zurückgerudert und den Artikel editiert.

Wie konnten Sie das überhaupt im Nachhinein nachvollziehen?
Wir haben das erst Monate später ausgewertet. Deshalb ließ sich das nicht hundertprozentig rekonstruieren. Durch Verweise auf den Tweet der Bild-Zeitung konnten wir entdecken, dass es einen gegeben haben muss, der gelöscht wurde.

Gleichzeitig wurde der Weblink zum Artikel umgeleitet. Interessanterweise auf einen anderen Silvester-Artikel, der einfach neutral über die Feiern in der Stadt berichtet. Unsere Daten sind in diesem Fall nicht ganz koscher, das erwähnen wir auch in der Studie.

Sie haben in Ihren Untersuchungen jeweils zwei relativ getrennte Gruppen gefunden. Die einen verbreiten die Fake News, die andere die Klarstellung. Warum ist das so?
Der Jura-Professor Dan Kahan spricht in solchen Fällen von motivierter Öffentlichkeit. Leute, die bereits in einem Weltbild leben und sich als Teil einer Gruppe fühlen, haben eine Motivation, Nachrichten, die ihrem Weltbild entsprechen weiter zu verteilen – unabhängig davon, ob die Geschichten stimmen, ob sie plausibel sind oder ob sie zurückgezogen werden. Selbst dann, wenn sie selber zugeben müssen, dass sie Mist verbreitet haben, geben sie die Richtigstellung nicht weiter. Diese widerspricht ihrem Interesse und ihrer Identität.

Sind das noch Filterblasen?
Es gibt Filterblaseneffekte, aber diese sind nicht schuld an Fake News. 89 Prozent der Menschen, die die Fake News verbreitet haben, hatten auch die Richtigstellung in ihrer Timeline. Es ist also nicht so, dass diese Menschen technisch von der Wahrheit abgeschnitten wären. Auf der anderen Seite gibt es aber einen Filterblaseneffekt: Ein gewöhnlicher Twitter-Account, der den bekannten Medien folgt, bekommt in der Regel gar nichts von der Fake News mit. Nur ein Drittel derjenigen, die die Richtigstellung verteilt haben, hatten zuvor überhaupt die Fake News in der Timeline.

Die Filterblaseneffekte schützen also eher vor der Verbreitung von Fake News. Dasselbe hatte übrigens auch Eli Pariser gemeint, als er den Begriff der Filterblase prägte. In einem Interview wurde er gefragt, ob die Filterblase schuld sei an Trump. Nein, hat er gesagt, das glaube er nicht. Aber die Filterblasen könnten ein guter Grund dafür sein, dass die Liberalen Trump nicht haben kommen sehen.

Das bestätigt unsere These: Der rechte Stamm wird nicht durch die Filterblaseneffekte genährt, aber wir in unserer liberalen Blase kriegen gar nicht mit, was da rechts passiert.

Sie sprechen von Stämmen, die die Fake News unter sich verbreiten. Wie darf man sich diese Organisationsform vorstellen?
Nach unseren Erkenntnissen, dürfte den meisten Mitgliedern dieser Stämme überhaupt nicht bewusst sein, einem Stamm anzugehören. Erst von außen, in der Netzwerkanalyse werden die Cluster sichtbar, in denen Menschen sich online organisieren. Die Leute glauben, sie seien mit ganz normalen Leuten vernetzt. So haben wir uns das Internet damals als Utopie auch vorgestellt: Eine Organisation ohne Organisation in der es keine Hierarchie braucht und die trotzdem einen spezifischen Informationsfluss gewährleisten kann.


Gesprächspartner Michael Seemann, Foto: Ralf Stockmann

Wie sollten Medien mit solchen Phänomenen umgehen? Viele Redaktionen haben in letzter Zeit eigene Fact Checking Teams geschaffen, um Fake News aufzuklären. Ist das überhaupt sinnvoll?
Unsere Analyse sagt relativ klar, dass Fact Checking die Fake News weder verhindern noch eingrenzen kann. Trotzdem halte ich es für falsch, damit jetzt aufzuhören. Diesen Dingen muss widersprochen werden, allein aus einer Chronistenpflicht heraus. In einer anderen Studie heißt, dass Fact Checking die Menschen vor Fake News impfen kann. Wenn Leute die Fact Checks lesen, bevor sie die originale Fake News zu sehen bekommen, sind sie signifikant weniger anfällig, die Fake News zu glauben. In der Hinsicht gibt es da schon eine Wirkung. Ich warne davor, das Fact Checking jetzt einfach einzustellen. Man darf sich nur nicht der Illusion hingeben, dass man so das Problem lösen könnte.

Ist der Begriff Fake News nicht eigentlich viel zu harmlos? Sind das nicht oft schon eher bewusste Propagandalügen?
Das ist eine schwierige Abgrenzung. Es ist ja auch nicht so, dass vor dem Aufkommen des Begriffes "Fake News" Berichterstattung immer richtig war. Aber die Fake News hängen eng mit der digitalen Verbreitung weiter. Das ist nicht die Weiterentwicklung der Zeitungsente, das hat sich aus dem Hoax entwickelt, ein sehr altes Internetphänomen. Eine offensichtlich total ausgedachte Geschichte, die sich viral im Internet verbreitet. Ein bekanntes Beispiel sind die Bonsai-Kittens, die angeblich von Japanern in Einmachgläsern aufgezogen werden. Das ist aus der Internet-Steinzeit vor dem Jahr 2000. Tausende von Leute haben das geteilt und sich aufgeregt. Der Hoax wurde zur Waffe. Wenn das politisch motiviert ist, grenzt das an Propaganda. Aber ich glaube nicht, dass das die Haupterscheinungsform ist.

Warum?
In den USA gibt es Untersuchungen, dass fast alle Fake News aus kommerzieller Absicht entstanden sind. Das ist ein richtiges Business. Menschen basteln seriös aussehende Nachrichtenportale und denken sich Nachrichten aus, die sich möglichst gut viral verteilen, um Werbeeinnahmen zu generieren. Dabei haben sie die motivierten Öffentlichkeiten entdeckt. Wilde Geschichten darüber, dass Hillary Clinton irgendwelche Leute ermordet habe, wurden von Trump-Anhängern geteilt wie verrückt. Es gibt Interviews mit Menschen, die solche Seiten betreiben, die selbst eingetragene Demokraten sind. Denen ist der Inhalt scheißegal, für die ist das ein Geschäftsmodell.

Der Kern des Problems heißt also Kapitalismus?
Das wäre wohl eine zu leichte Antwort. Tatsächlich ist das ein einträgliches Modell. Mit Millionen von Shares gibt es eben auch gute Werbeerlöse.

Gibt es solche Phänomen auch in Deutschland?
Nicht in dieser Kommerzialität. Zumindest ist mir das noch nicht untergekommen. Die Deutschen Wirtschaftsnachrichten gehen vielleicht in die Richtung. Das sind keine Fake News, aber extrem fischige Überschriften für halbwahre Artikel. Das geht immerhin in die Richtung. Auch Seiten wie Breitbart oder Tichys Einblick nehmen es mit der Wahrheit nicht immer ganz genau. Aber das ist nicht das, was wir als Fake News verstanden haben wollen.

Die Studie ist unter www.ctrl-verlust.net zu finden.

Eine Version dieses Artikels ist zuerst in Ausgabe 23/2017 des Journal Frankfurt erschienen. Hier geht es zum Abonnement.
 
Fotogalerie:
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28. Dezember 2017, 10.43 Uhr
Jan Paul Stich
 
 
 
 
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