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Eine 24-Stunden-Reportage im Gleis 25

8760 Stunden lang geöffnet

Das Gleis 25 hat 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr geöffnet. Unsere Reporter haben 24 Stunden am Stück in der Kneipe verbracht. Durften allerdings in fünf Schichten berichten - ein langes Lesestück.
16:00
"Wir sind Kneipenterroristen/ Schwerstens tätowiert/ Wir ham' immer einen sitzen/ Ganz egal was auch passiert." hatte die berühmt berüchtigte Frankfurter Dichterformation "Die Böhsen Onkelz" einst gereimt. Warum mir das gerade jetzt einfällt? Nun, ich sitze in einer Frankfurter Kneipe, die Onkelz laufen, schwerstens tätowiert sind hier so einige und einen sitzen haben sie auch. Nur von Terrorismus kann im Gleis 25 keine Rede sein, nicht mal Bombenstimmung lässt sich attestieren. Peter und Dirk haben eigentlich Karten fürs Stadion. Wegen des "Scheiß Wetters" schauen sie die erste Halbzeit aber lieber im Trockenen. Danach verpassen sie ihren Zug und verfolgen auch noch das Trauerspiel der zweiten Halbzeit hier. 

17:30
Gunnar war bis gestern sechs Uhr hier. Kurz nach Abpfiff kehrt er zurück. Er komme von der Pulse of Europe Demo, danach habe er das Spiel auf der Zeil geschaut. Besorgt erkundigt er sich am Tresen nach seinem Kumpel Thorsten. Ja, der sei noch bis 12 geblieben, erwidert die Bardame. Gunnar staunt anerkennend - ja, der wird jetzt wohl noch pennen.

18:00
Nach dem Spiel füllt sich die Kneipe schnell. "Eintracht Frankfurt Olé! Schwarz und weiß wie Schnee!" Grölt die Tischgesellschaft, gefolgt von einem beherzten "scheiß Schiri!". Kurze Zeit später steht gefühlt die komplette Westkurve im Gleis 25.





20:00
Gunnar ist immer noch da. Nach der kurzzeitigen Sorge um Torsten am Nachmittag, ist Aufatmen angesagt: Thorsten steht schon wieder am Tresen – putzmunter, naja, so putzmunter Torsten sein kann – ein Mann der vielen Worte ist er in jedem Fall nicht. Dafür aber Gunnar. Die zwei ergänzen sich ganz gut. Findet auch Gunnar. Ein Problem zwischen den beiden gibt es trotzdem: Thorsten ist nämlich Eintracht-Fan und Gunnar steht auf den HSV. Bei jedem Gegentor muss der eine dem anderen einen ausgeben. Nun ja, die Tabelle ist selbsterklärend und somit auch Torstens Misere. Gunnar nennt das strategischer Fan sein.

20:32
Gunnar fragt mich, ob ich einen Holger kenne. Ich verneine. Er erklärt mir, dass Holgers von Natur aus schlechte Menschen wären, prinzipiell anstrengend und hier Hausverbot haben. Aha…Nur gut, dass ich nicht Holger heiße.

22:43
Die Gäste und Dreiviertel der Belegschaft singen lauthals den Songs aus der Jukebox mit, den jungen Mann scheint‘s beim Schlafen nicht zu stören. Mich schon! Auf gute Freunde - schon wieder Onkelz. Erinnert mich an meine Jugend aufm Dorf. Und nicht an die hellsten Kerzen auf der Torte. Gunnar, der per se sehr helle scheint, erinnert der Song auch an seine Jugend, aber nur im positiven Sinne. Er hat das mit Vergangenheit anscheinend überwunden, ebenso wie der Rest der Gäste, die sich in den Armen liegen und bei dem Song alle gute Freunde sind – ich find‘s befremdlich.





23:55
Thorsten ist nach einer kurzen schläfrigen Pause wieder anwesend. Wie von den Toten auferstanden steht er mit einem Bier vor mir und schaut ganz frisch aus, als hätte er einen erholsamen Schlaf gehabt. Wahnsinn! Ich würde gerne sein Geheimnis wissen. Vielleicht weniger sprechen, spart Energie…

1:20
Die Jukebox wird jetzt von Fachkundigen übernommen. Ich treffe die Junge Deutsche Philharmonie, die soeben das Lokal betreten hat und nun einen Hit nach dem anderen aus dem Automaten kitzelt. Zu den Musikern gehört Posaunist Julian. Er berichtet, dass sie am heutigen Abend vor einigen Stunden noch in der Alten Oper aufgetreten sind. Auf Schostakowitsch folgt jetzt also die Top 100 aus Deutschland.

1:52
Isabella, eine der zwei Kneipenwirtinnen, findet nach einer stressigen Phase etwas Zeit, um über ihre Erfahrungen zu berichten: „Hier wird viel Alkohol getrunken“, attestiert sie ihren Gästen, „Manchmal gibt es da auch Probleme. Heute ist es aber ruhig. Es ist eben keine Kirche, sondern eine Kneipe“.





3:38
Es wird etwas ruhiger auf der Tanzfläche. Das hindert einen jungen Mann nicht daran, sein T-Shirt beim Tanzen zu zerreißen. Seine Begleitung Marcus alias „Mogli“ bleibt da eher besonnen. „Wir haben uns hier spontan in Frankfurt verabredet, mein alter Freund Ben fliegt morgen nach Dubai. Für mich geht es nach Berlin und dann nach Bali“, erklärt er. Der studierte Sozialpädagoge bereist mit Balu, dem VW, Baujahr 1986, die Welt und war schon in ganz Europa mit ihm unterwegs „Ich muss einfach Leben“, so Mogli.

5:00
Paulina, die zweite Wirtin im Bunde, hat nun auch Zeit gefunden: „Das erste Mal hier zu arbeiten war schwierig, aber jetzt geht es“. Paulina kommt aus Polen und arbeitet seit einem Jahr im Gleis 25. „Es macht Spaß, man sieht hier alle möglichen Menschen vom Schauspieler bis zum Messebesucher. Ich musste aber auch schon mal jemanden rauswerfen. Mit meiner Kollegin klappt das aber gut“, sagt sie.

6:26
„Feierabend!“, schreit Isabella in Richtung Eingangstür. Dort steht ein Mann, der gerne hinein würde. Da fühlt man sich gleich ganz besonders, wäre es nicht halb 7 Uhr am Montag.

8.15
Wir lösen den Kollegen nach seiner achtstündigen Schicht ab, drücken dem armen Kerl ein Schnittchen zur Stärkung in die Hand und schicken ihn heim. Unsere Blicke schweifen durch die Kneipe, wir mustern das Publikum: Ein Mann in blauer Handwerkerhose steht ganz vertieft in sein Spiel am Automaten. Im Laufe unserer Schicht wird er eine Zigarette nach der anderen in den Mund und einen Schein nach dem anderen in den Automaten stecken





9.15
Ein Mann mit adretter Kleidung sitzt am Tresen, trinkt Kaffee und raucht. Eine Frau mittleren Alters, die so aussieht wie die nette Nachbarin von nebenan, die einem als Kind immer mal wieder Süßigkeiten zugesteckt hat, betritt das Lokal. Sie bestellt einen Apfelwein und raucht. Wir kommen ins Gespräch und finden heraus, dass sie Stewardess ist: „Ich trinke in jeder Stadt, in der ich bin, das passende Getränk“. Und in Frankfurt ist das natürlich Apfelwein.

10.30
Wir sind in ein ‚Mädels-Gespräch‘ vertieft – zentrales Thema: Männerprobleme. Plötzlich meldet sich ein an der Theke sitzendes Exemplar zu Wort: „Entschuldigung, dass ich mich einmische. Aber der hat ganz bestimmt ‘ne Andere. Vertraut mir! Ich weiß wie das läuft!“. Wir fragen schmunzelnd, woher er das denn wisse, ob er das genauso mache. Jetzt fühlt er sich ertappt und streitet vehement ab: „Nein, ich bin doch viel zu alt dafür!“ – alles Ausreden, wie wir in stillem Einverständnis beschließen.

11:45
Das Dudeln und Klackern des Automaten, betrieben vom immer noch anwesenden Handwerker strapaziert unsere Nerven. Man scheint es uns anzumerken. Die quirlige Bedienung hat Mitleid mit uns, spendiert uns noch zwei Cappuccini und fünf Songs an der Jukebox. Dankend nehmen wir an und bestimmen wie schon den ganzen Vormittag über die musikalische Auswahl. Wir können verraten, dass unsere Wahl nicht auf die Onkelz fällt.

12.12
Auf dem Fernseher hinten läuft eine ARD-Kochsendung. Robert kommt rein. Ella ruft: „Robert! Bist du fit wieder?!“ Zu dem Zeitpunkt befinden sich vier weitere männliche Gäste im Gleis 25, viele hier sind Stammgäste, Ella begrüßt sie mit dem Vornamen und einer herzlichen Umarmung. Robert bestellt an der Bar seine erste Cola. Wir machen es uns mit Kaffee und Latte Macchiato bequem.





14:23
Wir reden mit Wolfgang, dem Betreiber, 42 Jahre alt. Das Konzept vom Gleis 25 gebe es bereits seit 30 Jahren, vor zehn Jahren habe er übernommen. Er hat den Laden entkernt, Elektronik und Bar erneuert, nur die Deckenkonstruktion sei geblieben. Er musste aber eine Entscheidung treffen: Rauchen oder Essen. Beides ein lukratives Geschäft in dieser Ecke der Stadt. Natürlich hat man sich fürs Rauchen entschieden. „Ich bin ein alter Gastrohase“, sagt Wolfgang. Er habe außerdem fast alle von der alten Besetzung übernommen. Ella ist die Geschäftsführerin. Wolfgang ist der Betreiber. Man wolle mit der Zeit gehen und habe deswegen das Konzept verfeinert: freies W-Lan, Jukebox durch ein digitales Archiv mit 6,8 Millionen Songs ausgetauscht. Vom Publikum habe man hier alles: Vom Oberarzt zum Flugkapitän, vom Hartz-IV-Empfänger zur Jugend und extremen Fußballfans. „Den Rekord hat ein Gast aufgestellt, der drei Tage lang hier war. Ohne Hilfsmittel. Das war ein Chinese oder Japaner, der hatte hier einen Mordsspaß. Der ging dann zwar mal für zwei Stunden in sein Hotel, legte sich dort aber nicht schlafen. Das hätte ich ihm sonst angesehen“, so Wolfgang. Für ihn selber ist Schlafen auch Luxus. Er ist Vater von drei kleinen Kindern und betreibt noch zwei weitere Läden. Es gäbe Betreiber, die würden in ihrer Kneipe leben und sterben. So ist das bei Wolfgang aber nicht. Deswegen gibt es Ella. Und „was Ella sagt, ist Gesetz“.

15.21
Uhr: Getränke und Bierfässer werden geliefert. Vor dem Eingang wird eine unterirdische Luke geöffnet. Passanten müssen aufpassen, dass sie nicht reinstürzen. Wir verabschieden uns von Ella, bezahlen unsere Rechnung und bedanken uns für die gute Zeit. Der ITler hängt noch weiter am Automaten und auch Robert hat seine Position nicht verändert.

Der Text stammt aus dem JOURNAL FRANKFURT Ausgabe Nr. 8.
 
Fotogalerie:
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12. April 2017, 11.40 Uhr
Katrin Börsch, Katarina Bruns, Davide Di Dio, Tamara Marszalkowski, Nicole Nadine Seliger, Jan Paul Stich, Paulina Stoll
 
 
 
 
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