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Die Trauer war den deutschen Fans nach dem Viertelfinal-Aus ins Gesicht bzw. in den Rücken geschrieben © Bernd Kammerer
EM-Glosse
Nach Viertelfinal-Aus: Hand oder nicht Hand?
Das Viertelfinalaus der DFB-Elf erhitzt die Gemüter: Hätte es einen Handelfmeter geben müssen? Unser EM-Glossist hat das mal analysiert.
Transparenzhinweis: Ich bin seit 1988 Fußballschiedsrichter und seit 2018 DFB-Schiedsrichtercoach und DFB-Schiedsrichterbeobachter im Bereich der Regionalliga, der Junioren-Bundesligen und der Frauen-Bundesliga. Sie können jetzt also das sagen, was ich mir schon in meinem Freundeskreis am Freitagabend anhören musste: „Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus.“ Das ist natürlich Unfug, denn es gehört zur Jobbeschreibung, Fehler zu erkennen und zu analysieren.
Andererseits könnte man aber auch sagen: Wenn Sie zuhause einen Wasserrohrbruch haben, dann rufen Sie sich einen Klempner, also einen Experten, und keinen Bäcker oder Dirigenten. Wenn Sie also der Meinung sind: „Die deutsche Mannschaft wurde im Spiel gegen Spanien betrogen. Ich habe nie einen klareren Handelfmeter gesehen. Der VAR war wahrscheinlich gerade Kaffee holen. Punkt. Aus. Ende der Diskussion!“ – dann hören Sie an dieser Stelle auf zu lesen, denn Sie verschwenden Ihre Zeit.
Die permanente Handspielsituation ist ein hausgemachtes Problem
Erst einmal zum Handspiel generell: Der Fußball ist in den vergangenen Jahren immer komplexer, schneller, schwieriger geworden, und das gilt auch für die Beurteilung von Handspielsituationen. Klar ist aber auch, dass den Schiedsrichtern durch eine Vielzahl von neuen Kriterien und Auslegungen die Entscheidungsfindung erheblich erschwert worden ist, also: Die permanente Handspielsituation ist auch ein hausgemachtes Problem.
Im Zweifelsfall hilft immer erst einmal ein Blick ins Regelbuch. Handspiel fällt unter das Herzstück des Regelwerks, die Regel 12, überschrieben mit „Fouls und sonstiges Fehlverhalten“. Dort finden wir den Satz: „Nicht jede Ballberührung eines Spielers mit der Hand/dem Arm ist ein Vergehen.“ Der hilft uns erst einmal nicht weiter, denn von weiterer Bedeutung sind die Kriterien, die für eine mögliche Strafbarkeit einer Berührung des Balles mit dem Arm oder mit der Hand herangezogen werden müssen.
Handspiel: Es gibt nur ein Ja oder ein Nein, keine Grauzone
Zunächst einmal: Es ist völlig unerheblich, ob ein Feldspieler den Ball mit der Faust wegboxt oder ob der Ball lediglich leicht seine Fingerknöchel streift: Handspiel ist eine faktische Entscheidung, wie auch das Abseits. Es gibt nur ein Ja oder ein Nein, keine Grauzone. Weiter: Ebenfalls unerheblich, jedenfalls für die Beurteilung der Strafbarkeit des Handspiels, ist dessen Auswirkung. Ein Handspiel wird nicht strafbar dadurch, dass der an die Hand geschossene Ball ansonsten möglicherweise auf das oder gar in das Tor gegangen wäre. Das ist lediglich eine Frage hinsichtlich der disziplinarischen Bestrafung, und wenigstens das sollte eigentlich auch ein Bundestrainer wissen.
Kommen wir nun also zum Knackpunkt: Ist das Handspiel des spanischen Verteidigers Marc Cucurella, mit dem er im eigenen Strafraum den Torschuss von Jamal Musiala abwehrte, als zwingend strafbar zu bewerten? Welche Kriterien hatte Schiedsrichter Anthony Taylor dabei innerhalb von Sekundenbruchteilen zur Rate zu ziehen? War der Arm von Cucurella unnatürlich weit vom Körper abgespreizt? Vergrößerte er seine Körperfläche? Aus welcher Entfernung wurde der Schuss von Musiala abgegeben? Hatte Cucurella den Blick auf den Ball; hatte er also die Chance, ihn überhaupt zu sehen? Und wie scharf war der Ball geschossen?
Handspiel im EM-Viertelfinale? Schiedsrichter hatte sehr gute Sicht
Ich saß am Freitag vor dem Fernseher, sah die erste Zeitlupe und schrieb sofort spontan in meine WhatsApp-Schiedsrichtergruppe: „Auf keinen Fall Elfmeter!“ Das Hauptkriterium für mich war die Tatsache, dass Cucurella versuchte, den Arm an den Körper zu ziehen und in dieser Bewegung von einem sehr scharfen Schuss getroffen wurde. Andererseits, und das muss man offen zugeben, hätte angesichts der Auslegung von Handspielszenen im internationalen Bereich in der vergangenen Saison der Strafstoßpfiff niemanden überrascht, auch nicht den spanischen Spieler, wie man sehen konnte.
Eines war diese Szene eindeutig nicht: unauslegbar. Und eben darum gab es auch keinen Grund für den VAR zu intervenieren. Schiedsrichter Taylor hatte sehr gute Sicht und beurteilte die Szene aufgrund seiner klaren Wahrnehmung. Eine eindeutige Fehlentscheidung lag nicht vor. Darum gab es auch keinen Spielraum für den VAR, hier einzugreifen. Was wäre denn passiert, wenn der VAR sich eingeschaltet hätte? Taylor wäre in die Review Area gegangen, hätte auf dem Bildschirm das gesehen, was er zuvor auch schon im realen Spielablauf gesehen hätte und seine Entscheidung nicht revidiert. Hätte das die Volksseele ruhiggestellt? Ich glaube kaum.
Dürfen wir sicher sein, dass die deutsche Mannschaft den Strafstoß verwandelt hätte?
Anschlussfrage: Und was ist mit dem Handelfmeter, den die deutsche Mannschaft im Spiel gegen Dänemark bekommen hat? So provokativ das jetzt auch klingen mag: Dieser Strafstoß war wesentlich klarer und unauslegbarer als der im Spanien-Spiel. Denn hier hat der Verteidiger klaren Blick auf den Ball, der noch dazu eher als Chip-Ball daherkommt als dass er scharf geschossen wird, und fährt den Arm von unten nach oben, vom Körper weg aus. Dass dann die Hand nur leicht gestreift wird und dieses Handspiel ohne jede Auswirkung blieb, ist für die Beurteilung unerheblich, siehe oben.
Was also bleibt, wenn man sich das Spiel in der Gesamtschau betrachtet? Natürlich eine großartig kämpfende und ab der 60. Minute auch großartig spielende deutsche Mannschaft. Ein Toni Kroos, der sowohl aufgrund der Intensität als auch der Quantität seiner Fouls das Spiel nicht auf dem Platz hätte beenden dürfen. Einwand: Wenn er für das erste Foul gelb gesehen hätte, wäre es zu den beiden weiteren Fouls nicht gekommen. Mag sein. Aber dürfen wir sicher sein, dass die deutsche Mannschaft den Strafstoß verwandelt hätte, wenn sie ihn bekommen hätte?
Julian Nagelsmann hat an Größe und Qualität gewonnen
Anthony Taylor hat ganz bestimmt nicht fehlerlos gepfiffen. Aber hat Antonio Rüdiger sich nicht beim Gegentreffer zum 1:2 der Spanier in seinem Stellungsspiel fatal verschätzt und dadurch diesen Treffer erst ermöglicht? War Niclas Füllkrug bei seiner Kopfballvorlage zu dem Schuss von Musiala nicht minimal im Abseits? Und hat Füllkrug nicht kurz vor Spielende den möglichen Ausgleich vergeben, indem er freistehend am Tor vorbeiköpfte? Das sind keine Schuldzuweisungen und keine Ausflüchte.
Es ist lediglich der Versuch, der Komplexität des Spiels gerecht zu werden, und dies war ein extrem komplexes Spiel. Über das Ausscheiden der hochsympathischen deutschen Mannschaft bin ich wirklich traurig. Ich hätte dieses Team gerne weiterspielen sehen. Ich finde, auch Julian Nagelsmann hat im Laufe des Turniers an Klasse und Größe gewonnen. Nur ist es eben ungerecht, für das Ausscheiden – wieder einmal – einen einzigen, und zwar den bequemsten Schuldigen auszumachen.
Andererseits könnte man aber auch sagen: Wenn Sie zuhause einen Wasserrohrbruch haben, dann rufen Sie sich einen Klempner, also einen Experten, und keinen Bäcker oder Dirigenten. Wenn Sie also der Meinung sind: „Die deutsche Mannschaft wurde im Spiel gegen Spanien betrogen. Ich habe nie einen klareren Handelfmeter gesehen. Der VAR war wahrscheinlich gerade Kaffee holen. Punkt. Aus. Ende der Diskussion!“ – dann hören Sie an dieser Stelle auf zu lesen, denn Sie verschwenden Ihre Zeit.
Erst einmal zum Handspiel generell: Der Fußball ist in den vergangenen Jahren immer komplexer, schneller, schwieriger geworden, und das gilt auch für die Beurteilung von Handspielsituationen. Klar ist aber auch, dass den Schiedsrichtern durch eine Vielzahl von neuen Kriterien und Auslegungen die Entscheidungsfindung erheblich erschwert worden ist, also: Die permanente Handspielsituation ist auch ein hausgemachtes Problem.
Im Zweifelsfall hilft immer erst einmal ein Blick ins Regelbuch. Handspiel fällt unter das Herzstück des Regelwerks, die Regel 12, überschrieben mit „Fouls und sonstiges Fehlverhalten“. Dort finden wir den Satz: „Nicht jede Ballberührung eines Spielers mit der Hand/dem Arm ist ein Vergehen.“ Der hilft uns erst einmal nicht weiter, denn von weiterer Bedeutung sind die Kriterien, die für eine mögliche Strafbarkeit einer Berührung des Balles mit dem Arm oder mit der Hand herangezogen werden müssen.
Zunächst einmal: Es ist völlig unerheblich, ob ein Feldspieler den Ball mit der Faust wegboxt oder ob der Ball lediglich leicht seine Fingerknöchel streift: Handspiel ist eine faktische Entscheidung, wie auch das Abseits. Es gibt nur ein Ja oder ein Nein, keine Grauzone. Weiter: Ebenfalls unerheblich, jedenfalls für die Beurteilung der Strafbarkeit des Handspiels, ist dessen Auswirkung. Ein Handspiel wird nicht strafbar dadurch, dass der an die Hand geschossene Ball ansonsten möglicherweise auf das oder gar in das Tor gegangen wäre. Das ist lediglich eine Frage hinsichtlich der disziplinarischen Bestrafung, und wenigstens das sollte eigentlich auch ein Bundestrainer wissen.
Kommen wir nun also zum Knackpunkt: Ist das Handspiel des spanischen Verteidigers Marc Cucurella, mit dem er im eigenen Strafraum den Torschuss von Jamal Musiala abwehrte, als zwingend strafbar zu bewerten? Welche Kriterien hatte Schiedsrichter Anthony Taylor dabei innerhalb von Sekundenbruchteilen zur Rate zu ziehen? War der Arm von Cucurella unnatürlich weit vom Körper abgespreizt? Vergrößerte er seine Körperfläche? Aus welcher Entfernung wurde der Schuss von Musiala abgegeben? Hatte Cucurella den Blick auf den Ball; hatte er also die Chance, ihn überhaupt zu sehen? Und wie scharf war der Ball geschossen?
Ich saß am Freitag vor dem Fernseher, sah die erste Zeitlupe und schrieb sofort spontan in meine WhatsApp-Schiedsrichtergruppe: „Auf keinen Fall Elfmeter!“ Das Hauptkriterium für mich war die Tatsache, dass Cucurella versuchte, den Arm an den Körper zu ziehen und in dieser Bewegung von einem sehr scharfen Schuss getroffen wurde. Andererseits, und das muss man offen zugeben, hätte angesichts der Auslegung von Handspielszenen im internationalen Bereich in der vergangenen Saison der Strafstoßpfiff niemanden überrascht, auch nicht den spanischen Spieler, wie man sehen konnte.
Eines war diese Szene eindeutig nicht: unauslegbar. Und eben darum gab es auch keinen Grund für den VAR zu intervenieren. Schiedsrichter Taylor hatte sehr gute Sicht und beurteilte die Szene aufgrund seiner klaren Wahrnehmung. Eine eindeutige Fehlentscheidung lag nicht vor. Darum gab es auch keinen Spielraum für den VAR, hier einzugreifen. Was wäre denn passiert, wenn der VAR sich eingeschaltet hätte? Taylor wäre in die Review Area gegangen, hätte auf dem Bildschirm das gesehen, was er zuvor auch schon im realen Spielablauf gesehen hätte und seine Entscheidung nicht revidiert. Hätte das die Volksseele ruhiggestellt? Ich glaube kaum.
Anschlussfrage: Und was ist mit dem Handelfmeter, den die deutsche Mannschaft im Spiel gegen Dänemark bekommen hat? So provokativ das jetzt auch klingen mag: Dieser Strafstoß war wesentlich klarer und unauslegbarer als der im Spanien-Spiel. Denn hier hat der Verteidiger klaren Blick auf den Ball, der noch dazu eher als Chip-Ball daherkommt als dass er scharf geschossen wird, und fährt den Arm von unten nach oben, vom Körper weg aus. Dass dann die Hand nur leicht gestreift wird und dieses Handspiel ohne jede Auswirkung blieb, ist für die Beurteilung unerheblich, siehe oben.
Was also bleibt, wenn man sich das Spiel in der Gesamtschau betrachtet? Natürlich eine großartig kämpfende und ab der 60. Minute auch großartig spielende deutsche Mannschaft. Ein Toni Kroos, der sowohl aufgrund der Intensität als auch der Quantität seiner Fouls das Spiel nicht auf dem Platz hätte beenden dürfen. Einwand: Wenn er für das erste Foul gelb gesehen hätte, wäre es zu den beiden weiteren Fouls nicht gekommen. Mag sein. Aber dürfen wir sicher sein, dass die deutsche Mannschaft den Strafstoß verwandelt hätte, wenn sie ihn bekommen hätte?
Anthony Taylor hat ganz bestimmt nicht fehlerlos gepfiffen. Aber hat Antonio Rüdiger sich nicht beim Gegentreffer zum 1:2 der Spanier in seinem Stellungsspiel fatal verschätzt und dadurch diesen Treffer erst ermöglicht? War Niclas Füllkrug bei seiner Kopfballvorlage zu dem Schuss von Musiala nicht minimal im Abseits? Und hat Füllkrug nicht kurz vor Spielende den möglichen Ausgleich vergeben, indem er freistehend am Tor vorbeiköpfte? Das sind keine Schuldzuweisungen und keine Ausflüchte.
Es ist lediglich der Versuch, der Komplexität des Spiels gerecht zu werden, und dies war ein extrem komplexes Spiel. Über das Ausscheiden der hochsympathischen deutschen Mannschaft bin ich wirklich traurig. Ich hätte dieses Team gerne weiterspielen sehen. Ich finde, auch Julian Nagelsmann hat im Laufe des Turniers an Klasse und Größe gewonnen. Nur ist es eben ungerecht, für das Ausscheiden – wieder einmal – einen einzigen, und zwar den bequemsten Schuldigen auszumachen.
9. Juli 2024, 15.30 Uhr
Christoph Schröder
Christoph Schröder
Christoph Schröder studierte in Mainz Germanistik, Komparatistik und Philosophie. Seine Interessensschwerpunkte liegen auf der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur und dem Literaturbetrieb. Er ist Dozent für Literaturkritik an der Goethe-Universität Frankfurt. Mehr von Christoph
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Text: Jasmin Schülke / Foto: © Klaus Berger
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