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Demokratie gestalten

Gegen Gewalt und Geschichtsvergessenheit

Vor 35 Jahren – am 9. November 1988 – wurde das Jüdische Museum Frankfurt im Rothschild-Palais am Mainufer eröffnet. Mirjam Wenzel blickt in einem Gastbeitrag zurück.
Das Jüdische Museum Frankfurt wurde am 9. November 1988 als erste kommunale Gedächtniseinrichtung für deutsch-jüdische Geschichte und Kultur der Bundesrepublik Deutschland eröffnet. 3 Jahre nach der Wiedereröffnung des neuen Museumskomplexes am Bertha-Pappenheim-Platz begeht es nun seinen 35. Geburtstag. Jubiläen sind Anlässe, um zurück zu schauen und die Entwicklungen zu reflektieren, die seit einer Gründung stattgefunden haben.

Was motivierte die Stadtverordneten im Jahr 1980 dazu, die Gründung eines Jüdischen Museums in Frankfurt zu beschließen? Unter welchen Vorzeichen stand seine Eröffnung? Und vor welchen Herausforderungen steht das Museum heute?

Jüdisches Museum Frankfurt: Die Verbindung zwischen der Geschichte der Dinge und den Biografien von Menschen

Bereits gegen Ende der 1960er-Jahre dachten Mitglieder der Kommission zur Erforschung der jüdischen Geschichte Frankfurts über die Gründung eines Jüdischen Museums in Frankfurt nach. Nach Ausstrahlung der Fernsehserie „Holocaust. Die Geschichte der Familie Weiss“ im Jahr 1979 war es dann soweit: die Stadtverordneten entschieden, im Rahmen der Entwicklung des Museumsufers im Rothschild-Palais ein Jüdisches Museum aufzubauen – mit Hinweis darauf, dass sich in Frankfurt einst eines der ersten Jüdischen Museen Europas, nämlich das Museum jüdischer Altertümer, befunden hatte, das im Novemberpogrom 1938 geplündert und zerstört worden war.

Eine Kiste aus dem Depot des Historischen Museums mit zeremoniellen Gegenständen aus dieser zerstörten Einrichtung wurde zum Grundstock der Sammlung des neugegründeten Jüdischen Museums. Dessen Sammlungs- und Vermittlungstätigkeit stand von Beginn an unter dem Vorzeichen der gewaltsamen Zerstörung und dem sich ihr entgegenstellenden Willen, den „geretteten Rest“ deutsch-jüdischer Kultur bewahren zu wollen. Sowohl der Gründungsdirektor Georg Heuberger wie auch die Kuratorin Cilly Kugelmann waren Kinder von Überlebenden, die sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit selbst als „geretteter Rest“ (hebräisch: She’arit Hapleta) verstanden. Die Verbindung zwischen der Geschichte der Dinge und den Biografien von Menschen prägte die Arbeit des jungen Museums und sie tut dies bis heute – ebenso wie die Spannungen im deutsch-jüdischen Beziehungsverhältnis nach der Schoa.

In Frankfurt wurden zwei Konflikte öffentlich ausgetragen, die die jüdische Gegenwart und die deutsche Erinnerungskultur geprägt haben


Zwischen dem Beschluss zur Gründung des Museums und der Eröffnung im Jahr 1988 wurden in Frankfurt zwei Konflikte öffentlich ausgetragen, die die jüdische Gegenwart und die deutsche Erinnerungskultur geprägt haben: die Besetzung der Bühne in den Kammerspielen von Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde Frankfurt anlässlich der Uraufführung von Rainer Werner Fassbinders Stück „Die Stadt, der Müll und der Tod“ im Jahr 1985 und die Besetzung der Ruinen von 19 Häusern der Judengasse im Sommer 1987, die vollends abgeräumt werden sollten, um ein Gebäude für die Stadtwerke zu bauen. Ersteres gilt als eine Form zivilen Ungehorsams, der sich erfolgreich gegen Antisemitismus zur Wehr setzte, letztere als ein Meilenstein in den Auseinandersetzungen um die Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland im Umgang mit der jüdischen Geschichte vor der Schoa. Als Kompromiss aus dem Konflikt um die Ruinen wurde 1992 das Museum Judengasse als eine Dependance des Jüdischen Museums eröffnet.

2023 hat das Jüdische Museum in Kooperation mit dem Archäologischen Museum und dem Künstlerhaus Mousonturm mit dem Festival „Mapping Memories: Judengasse Extended“ auf die noch immer anhaltende Verdrängung des materiellen wie immateriellen Erbes der Judengasse aus dem Stadtraum, insbesondere auf die Vernachlässigung des Ortes rund um die ehemaligen Hauptsynagoge aufmerksam gemacht. Gemeinsam mit unseren Kooperationspartnern setzen wir uns nun dafür ein, dass ein Gewölbekeller aus dem Jahr 1809 am nördlichen Ende der Judengasse in Zukunft kulturell genutzt werden kann. Die Auseinandersetzungen um einen angemessenen Umgang mit der bedeutsamen jüdischen Geschichte im öffentlichen Raum dauern also an.

Deutliche Zunahme rechtsextremer Einstellungen in Deutschland

Das Jüdische Museum Frankfurt nahm seine Arbeit in den 1980er-Jahren nicht nur auf, um die Reste der zerstörten und verdrängten deutsch-jüdischen Kultur zu bewahren und erneut sichtbar zu machen. Es trat auch der Geschichtsvergessenheit in der Bundesrepublik Deutschland entgegen und hat diese Aufgaben seither beständig ausgebaut: Es verantwortet heute neben der Ausstellungs- und Bildungsarbeit in seinen beiden Museen auch die Vermittlungsangebote zur Gedenkstätte Börneplatz, die an die mehr als 12 000 deportierten und ermordeten jüdischen Menschen aus Frankfurt erinnert und vor einem Jahr um die Website Shoah Memorial Frankfurt zu deren Biografien erweitert wurde.

Seit 2015 versieht das Museum zudem Führungen und Workshops zur Erinnerungsstätte an der Großmarkthalle, dem Ort der Massendeportationen in den Jahren 1941-45. Eben diese Erinnerungsarbeit ist eine fortwährende Praxis, die in den letzten Jahren nicht nur das Entfernen mutwilliger Beschädigungen und Verunglimpfungen umfasst, sondern auch allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen entgegen zu treten versucht: Die MEMO-Studien der letzten Jahre zeugen von einer zunehmenden Differenz zwischen dem historischen Faktenwissen um die Schoa und persönlichen Erinnerungsnarrativen in Deutschland. Nachfolgende Generationen erinnern ihre Groß- und Urgroßeltern selten als (Mit-)Täterinnen und Täter bzw. Profiteure, oft hingegen als Opfer oder als Helferinnen und Helfer.

Antisemitismus ist ein Seismograph für die Stabilität der liberalen demokratischen Ordnung

Diese Verschiebung in den Erinnerungsnarrativen geht der letzten Mitte-Studie zufolge mit einer deutlichen Zunahme von rechtsextremen Einstellungen in weiten Teilen der Gesellschaft sowie mit einer sich immer weiter durchsetzenden Zustimmung zu antisemitischen Vorstellungen, ja Gewalt einher. Eben diese Entwicklungen stellen nicht nur die Bildungs- und Vermittlungsarbeit des Jüdischen Museums vor erhebliche Herausforderungen. Es ist auch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, ihnen entgegen zu treten. Denn, wie die letztgenannte Studie lakonisch feststellt: „Ein Teil der Mitte distanziert sich von der Demokratie, ein Teil radikalisiert sich.“

Antisemitismus ist ein Seismograph für die Stabilität der liberalen demokratischen Ordnung. Seit Jahren verzeichnen die RIAS-Meldestellen einen kontinuierlichen Anstieg verbaler wie physischer Gewalt gegen Jüdinnen und Juden in Deutschland, die seit dem 7. Oktober 2023 noch einmal sprunghaft angewachsen ist. Als das Jüdische Museum vor 35 Jahren als öffentliche Kultureinrichtung des Frankfurter Museumsufers eröffnete, konnten Besucherinnen und Besucher seine Ausstellungen und Veranstaltungen aufsuchen ohne sich besonderen Sicherheitsmaßnahmen zu unterziehen. Nach dem Anschlag auf das Jüdische Museum in Brüssel im Mai 2014 wurde der Eingangsbereich um eine Kontrolle mit Metalldetektoren ergänzt, nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle im Oktober 2019 Polizeischutz für beide Museen eingeführt. Seit dem 7. Oktober 2023 bewachen nun Polizisten mit Maschinengewehren die Eingänge zu beiden Häusern.

Wie geht es weiter?

Wohin wird diese Entwicklung führen? Wie können wir weiterhin ein offenes Haus bleiben, das seine Besucherinnen und Besucher zur Teilhabe und Reflexion an jüdischer Kultur in Geschichte und Gegenwart einlädt? Und wie bewältigen unsere Kolleginnen und Kollegen die fortwährende Auseinandersetzung mit Hass und der Kontinuität antisemitischer Gewalt? Es sind diese und weitere Fragen, die mir als Direktorin des ältesten Jüdischen Museums in Deutschland zurzeit den Schlaf rauben.




Mirjam Wenzel @Jüdisches Museum/Sandra Hauer

Die Terrororganisation Hamas hat ihre genozidalen Gewaltverbrechen am 7. Oktober gefilmt und die Bilder umgehend in den Sozialen Medien verbreitet, um Jüdinnen und Juden weltweit in Angst und Schrecken zu versetzen. Wenig später wurden deutschlandweit die Häuser von Jüdinnen und Juden mit einem Davidstern oder einem Hakenkreuz markiert – so auch das Haus einer Kollegin in Frankfurt. Wir haben in den letzten Wochen viel Zeit darauf verwendet, uns innerhalb des Museumsteams wechselseitig zuzuhören und zu stärken, um den Schock über diese Entwicklungen und die mit ihm einhergehende Sprachlosigkeit zu überwinden und ins Handeln zu kommen.

Mit einer Sound- wie auch einer Filminstallation erinnern wir nun an die Geiseln sowie den zerstörten Kibbutz Nir Oz und treten mit einer breiten Bildungsoffensive für eine wirksame Auseinandersetzung mit Antisemitismus ein. Ein Museum ohne Mauern zu sein, bedeutet für unser Kollegium dieser Tage vor allem eines: weiterhin eine differenzierte Auseinandersetzung mit unserer Gegenwart und deren Geschichte zu führen. Um dies zu tun, sind wir heute – 35 Jahre nach unserer Eröffnung – mehr denn je auf Sie, liebe Leserinnen und Leser, angewiesen. Last but not least wende ich mich daher nun an Sie: bitte treten Sie dafür ein, dass sich die deutsche Geschichte nicht wiederholt – weder in Form von Gewalt gegen Jüdinnen und Juden, noch in Form von Gleichgültigkeit.

Info
Zur Person: Prof. Dr. Mirjam Wenzel, Direktorin des Jüdischen Museums Frankfurt.
 
Fotogalerie:
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15. November 2023, 17.29 Uhr
Mirjam Wenzel
 
 
 
 
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