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Verlangen und Melancholie von Bodo Kirchhoff
Im Museum der Erinnerung
Der Frankfurter Schriftsteller Bodo Kirchhoff hat erneut einen fabelhaften neuen Roman geschrieben: Ein Buch über Verluste, das mit einem Sprung vom Goetheturm beginnt.
D er Blick aus den Fenstern der Wohnung im zehnten Stockwerk eröffnet eine ungeahnte Perspektive auf die Stadt: Die Hochhäuser der Banken bilden in Augenhöhe eine Front, darunter der Main und das Museumsufer, der grüne Streifen des Museumsparks; ein Ort Mitten im Zentrum und doch von einer deutlich fühlbaren Abgeschiedenheit. Und dann stellt man sich Irene vor, an einem hellen Sommertag, wie sie ihren Rucksack packt und angeblich zu einer Demonstration gegen den Fluglärm aufbricht, in Wahrheit aber ziellos durch Frankfurt streift, ein paar Fotos macht, Menschen beobachtet. Irene, die dann ihren letzten Weg geht, durch den Stadtteil Sachsenhausen, über die belebte Schweizer Straße, dann über einen der Pfade durch die Kleingärten den Sachsenhäuser Berg hinauf zum Stadtwald. Irene, die am Goetheturm ihre Schuhe auszieht und barfuß hinaufsteigt; der höchste Holzturm Europas,
43 Meter, ein Sprung, ein tiefer Fall.
Die Wohnung im zehnten Stockwerk, in dem Hinrich, der Ich-Erzähler von Bodo Kirchhoffs neuem Roman lebt, ist in der Realität die Arbeitswohnung des Autors selbst. „Ich wollte“, sagt Kirchhoff, „die Frankfurter Nahumgebung haben; ich brauchte einen Schauplatz, der mir vertraut ist, ein konkretes Gerüst, um das herum ich die Fantasie schweifen lassen kann.“ Vor kurzem ist Kirchhoff 66 Jahre alt geworden. Seit 1979 hat er knapp 20 Prosawerke veröffentlicht, sehr erfolgreiche zum Teil. Und doch hat man gerade jetzt das sichere Gefühl, dass sich etwas gerundet hat. „Verlangen und Melancholie“ heißt Kirchhoffs neuer Roman. 2012 erschien „Die Liebe in groben Zügen“; insgesamt mehr als 1000 Seiten in zwei Jahren; zwei grandiose Romane, die in manchen Motiven miteinander verknüpft sind und doch ihre ganz eigenen Geschichten erzählen.
Die in „Verlangen und Melancholie“ geht so: Hinrich, FAZ-Kulturredakteur im Ruhestand (verzweifelt über die Unwissenheit seiner jungen Kollegen), hat seine Frau Irene vor neun Jahren durch besagten Sprung vom Goetheturm verloren. Seitdem zählt Hinrich die Verluste seines Lebens und bekämpft die Gedanken, die sich nicht wegschütteln lassen, mit der Betrachtung von Tierfilmen im Fernsehen. Eines Tages liegt ein Umschlag mit einem schwarzen Rand im Briefkasten. Niemand aus Hinrichs Freundes- oder Bekanntenkreis ist gestorben; eine untergründige Angst beschleicht ihn. „Es gibt bei mir immer Initialmomente für ein Buch“, sagt Bodo Kirchhoff, „ich bekam einen Trauerbrief, wusste aber, dass in meiner Umgebung niemand gestorben war und habe den Brief dann erst einmal beiseite gelegt.“ Doch der Kern für ein Buch war da. Und Kirchhoff begann zu arbeiten: „Ich habe bei meinen Büchern nie einen Plan, sondern immer nur eine oder zwei Figuren vor mir und versuche dann, diese Personen näher kennenzulernen.“ „Verlangen und Melancholie“ hat er achtmal geschrieben, bis er zufrieden war, und man merkt es dem Buch an, wie sorgfältig es gearbeitet ist.
Von der Wohnung in Frankfurt am Main weitet sich das Buch bald in sämtliche Richtungen. Wir werden Zeuge eines säuberlich geplanten Schwarzgeldschmuggels und Zürich; reisen mit Hinrich nach Warschau und nach Süditalien, wo er seiner ersten Liebe begegnet und bemerkt, dass die verlorene Zeit sich nicht zurückholen lässt. „Was in meinen Büchern liegt, ist mein begriffenes Leben“, sagt er, „mein begriffenes Leid, auch mein erfahrenes Glück, das gehört dazu. Ich habe immer nur das aufgeschrieben, was ich wirklich wusste, was ich wirklich erfahren habe.“ Der Bodo Kirchhoff der Jetztzeit ist weniger hochtönend als der der frühen Bücher, aber bei weitem nicht weniger radikal.
Im Roman findet Hinrich eine Anstellung als Wärter in jenem Museum, in dem seine Tochter eine Ausstellung über pompejische Kunst kuratiert hat. An den Abenden begegnet er dort immer wieder einer Frau, die er für seine tote Frau hält, ein Trugbild. Der Brief mit dem schwarzen Rand wird geöffnet werden, eine weitere Erschütterung in diesem auf sanfte Art erschütternden Buch. In Pompeji wird Hinrich schließlich von einem Hund angenommen. Man stellt sich vor, wie er durch die Wohnung streift, während Hinrich am Fenster steht, im zehnten Stock, und auf das nahe, entrückte Frankfurt blickt. Im Hintergrund würde ein Tierfilm laufen.
>> Bodo Kirchhoff: Verlangen und Melancholie, Frankfurter Verlagsanstalt, 444 S., 24,90 €; Buchpremiere: Frankfurt, Literaturhaus, Schöne Aussicht 2, 30.9., 20.30 Uhr
43 Meter, ein Sprung, ein tiefer Fall.
Die Wohnung im zehnten Stockwerk, in dem Hinrich, der Ich-Erzähler von Bodo Kirchhoffs neuem Roman lebt, ist in der Realität die Arbeitswohnung des Autors selbst. „Ich wollte“, sagt Kirchhoff, „die Frankfurter Nahumgebung haben; ich brauchte einen Schauplatz, der mir vertraut ist, ein konkretes Gerüst, um das herum ich die Fantasie schweifen lassen kann.“ Vor kurzem ist Kirchhoff 66 Jahre alt geworden. Seit 1979 hat er knapp 20 Prosawerke veröffentlicht, sehr erfolgreiche zum Teil. Und doch hat man gerade jetzt das sichere Gefühl, dass sich etwas gerundet hat. „Verlangen und Melancholie“ heißt Kirchhoffs neuer Roman. 2012 erschien „Die Liebe in groben Zügen“; insgesamt mehr als 1000 Seiten in zwei Jahren; zwei grandiose Romane, die in manchen Motiven miteinander verknüpft sind und doch ihre ganz eigenen Geschichten erzählen.
Die in „Verlangen und Melancholie“ geht so: Hinrich, FAZ-Kulturredakteur im Ruhestand (verzweifelt über die Unwissenheit seiner jungen Kollegen), hat seine Frau Irene vor neun Jahren durch besagten Sprung vom Goetheturm verloren. Seitdem zählt Hinrich die Verluste seines Lebens und bekämpft die Gedanken, die sich nicht wegschütteln lassen, mit der Betrachtung von Tierfilmen im Fernsehen. Eines Tages liegt ein Umschlag mit einem schwarzen Rand im Briefkasten. Niemand aus Hinrichs Freundes- oder Bekanntenkreis ist gestorben; eine untergründige Angst beschleicht ihn. „Es gibt bei mir immer Initialmomente für ein Buch“, sagt Bodo Kirchhoff, „ich bekam einen Trauerbrief, wusste aber, dass in meiner Umgebung niemand gestorben war und habe den Brief dann erst einmal beiseite gelegt.“ Doch der Kern für ein Buch war da. Und Kirchhoff begann zu arbeiten: „Ich habe bei meinen Büchern nie einen Plan, sondern immer nur eine oder zwei Figuren vor mir und versuche dann, diese Personen näher kennenzulernen.“ „Verlangen und Melancholie“ hat er achtmal geschrieben, bis er zufrieden war, und man merkt es dem Buch an, wie sorgfältig es gearbeitet ist.
Von der Wohnung in Frankfurt am Main weitet sich das Buch bald in sämtliche Richtungen. Wir werden Zeuge eines säuberlich geplanten Schwarzgeldschmuggels und Zürich; reisen mit Hinrich nach Warschau und nach Süditalien, wo er seiner ersten Liebe begegnet und bemerkt, dass die verlorene Zeit sich nicht zurückholen lässt. „Was in meinen Büchern liegt, ist mein begriffenes Leben“, sagt er, „mein begriffenes Leid, auch mein erfahrenes Glück, das gehört dazu. Ich habe immer nur das aufgeschrieben, was ich wirklich wusste, was ich wirklich erfahren habe.“ Der Bodo Kirchhoff der Jetztzeit ist weniger hochtönend als der der frühen Bücher, aber bei weitem nicht weniger radikal.
Im Roman findet Hinrich eine Anstellung als Wärter in jenem Museum, in dem seine Tochter eine Ausstellung über pompejische Kunst kuratiert hat. An den Abenden begegnet er dort immer wieder einer Frau, die er für seine tote Frau hält, ein Trugbild. Der Brief mit dem schwarzen Rand wird geöffnet werden, eine weitere Erschütterung in diesem auf sanfte Art erschütternden Buch. In Pompeji wird Hinrich schließlich von einem Hund angenommen. Man stellt sich vor, wie er durch die Wohnung streift, während Hinrich am Fenster steht, im zehnten Stock, und auf das nahe, entrückte Frankfurt blickt. Im Hintergrund würde ein Tierfilm laufen.
>> Bodo Kirchhoff: Verlangen und Melancholie, Frankfurter Verlagsanstalt, 444 S., 24,90 €; Buchpremiere: Frankfurt, Literaturhaus, Schöne Aussicht 2, 30.9., 20.30 Uhr
29. September 2014, 11.22 Uhr
Christoph Schröder
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Text: Florian Aupor / Foto: Über den Holbeinsteg zum Museumsufer © Adobe Stock/Branko Srot
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23. Dezember 2024
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