Sonntagstrip zum Orange Beach

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the luke /

Ein Pfadfinder braucht keinen Stadtplan. Mit einem Brieftaubeninstinkt ausgestattet ist selbst der Stand der Sonne unerheblich, wenn man sich in einem fremden Stadtteil zurechtfinden muss. Vom Bahnhof aus zum Westhafentower, dann rechts und immer am Mainufer entlang – so lautete meine Wegbeschreibung, um die angeblich coolste Trinkhalle der Stadt zu finden. So wird das „Orange Beach“ zumindest im Büdchen-Führer „Die unteren Zehntausend“ genannt, der gerade im Societätsverlag erschienen ist.

Ich bestieg mein Fahrrad und radelte drauflos. Zunächst ging es durch ein kastenförmiges Neubaugebiet im Gutleutviertel, dessen Springbrunnenhöfe durch Gittertore vor Eindringlingen geschützt waren, während nebenan Menschen in Lokalen saßen, zu denen Preis und Prestige den Normalsterblichen den Weg versperrten.
Wenigstens war auf dem Bachforellenweg die Aussicht auf den Main schön. Bald wurde es industriell: verrostete Kräne und Lagerhallen mit eingeschlagenen Scheiben erinnerten an vergangene Zeiten. Aber schon an der Main-Neckar-Brücke endete der Weg am Main entlang. Ein altes Gitter mit Vorhängeschloss ließ dahinter nur noch Gestrüpp erkennen. Ich folgte dem Weg, der an der Eisenbahnbrücke die Biege nach rechts machte, sodass ich gezwungenermaßen auf die Gutleutstraße geriet. Von da an ging es nur noch geradeaus. Rechts vorbei am Briefzentrum der Post, links an den südhessischen Asphaltmischwerken – lauter industrieller Sonntagsbrachen. Omas und Kinder an den Bushaltestellen, ein Betrunkener torkelt mir auf dem Fahrradweg entgegen, während ich die ungeraden Hausnummern verfolge, auf der Suche nach der „371a“, die noch lange nicht in Sicht ist. Als die Bauwerke mit den Hausnummern enden, ist ein orangenes Schild zu sehen, das mich nach links führt. Es geht über einen Schotterplatz zwischen einem Industriehof und Unkrautwildwuchs. An einer überwucherten Jacht auf dem Trockenen, bei der ich mich frage, wie sie dorthin gekommen sein mag, führt mich ein Schild nach rechts unter zwei Eisenbahnbrücken, welche als „Niederräder Brücke“ für eine zählen, und ich bin da: Zurück am Mainufer und endlich am Ziel.ob2.jpg

Ein paar Leute sitzen auf der überdachter Terasse vor dem begehbaren Büdchen, davor sitzt ein Pärchen auf Bierbänken unterm Sonnenschirm. Die Sandfläche unter ihnen soll für Strandfeeling sorgen. Der wahre Strand am Mainufer besteht aus zerbrochenen Betonklötzen, die ins Wasser reinragen und eine kleine Schneise zwischen den Büschen bilden. Unter den Brücken kann man aufs andere Ufer rübersehen. Der Inhaber Olaf Gries ist ein Mann um die 50, ruhig und umgänglich, er erzählt gern von seinem Büdchen, das er im Frühjahr entkernt habe, seiner Kundschaft, die auch mal gerne bis nach Mitternacht zum Baumstamm-Wettnageln dableibt, und von seinem Sortiment, das unter anderem aus 20 Sorten Bier und täglich frischem Brot besteht. „Als ich es heute morgen geholt habe, war es noch warm,“ sagt Gries und deutet auf sein Sonntagsbrot. Ein Radler kommt rein und noch bevor er „Binding Export“ sagen kann, hat Gries es schon aus dem Kühlschrank geholt. Das nennt man hier Stammkundschaft.

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Ein großer weißer Hund, den ich trotz seiner Masse vorher gar nicht bemerkt hatte, erhebt sich plötzlich aus einem Winkel des Häuschens. „Isolde“ nennt Gries das teilnahmslose Tier, das aussieht wie ein Eisbär und daher auch schon mal von den Gästen liebevoll „Knut“ genannt wird. Es wäre wirklich gemütlich hier, wenn nur nicht die Eisenbahnen vorbeitosen würden. Aber Gries hat sich schon daran gewöhnt: „Irgendwann hört man es nicht mehr.“ Die Leute scheint es auch nicht abzuschrecken. Sie machen hier ihren Zwischenstopp von der Radtour, kommen vom anderen Ufer herüber oder gar von der Autobahn. Ob per Zufall oder aus Gewohnheit, die Gäste von jung bis alt scheinen sich hier gerne aufzuhalten. Man spielt Boule in familiärer Atmosphäre, Gries kocht zu Mittag Hausmannskost. Es gibt sogar Toiletten, als gelte es, selbst die letzten Bedürfnisse zu decken. Wünsche bleiben hier nicht offen, nur noch eine Frage: Warum heißt es auf dem Schild, das „Orange Beach“ sei das zweitschönste Versteck unter der Sonne? Die Antwort wird aber noch nicht verraten...

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Nach einem langen Gespräch und ein paar Schnappschüssen radle ich wieder zurück. Diesmal nehme ich gleich die Gutleutstraße, fahre immer geradeaus und denke mir, wie lang doch eine Straße auf dem Hinweg erscheinen kann, wie kurz aber auf dem Rückweg.


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