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Rainbow Stories auf der Buchmesse
Wassim über Queerness: „Das Gefängnis hieß Marokko“
Auf der Buchmesse stellt Schauspieler Gunnar Solka die Rainbow Stories über queere Geflüchtete vor. Wassim aus Marokko spricht in der ersten Storie über Verfolgung, Ankommen in Frankfurt und die Rainbow Refugees.
Eigentlich war ich auf dem Weg, ein Star zu werden – jetzt arbeite ich in der Altenpflege. Die Arbeit ist sehr hart. Oft muss ich um 5 Uhr aufstehen, dabei bin ich ein Nachtmensch. Ich erfahre erst am Anfang der Woche, ob ich in Bornheim, Offenbach, Hanau oder sonst wo eingesetzt werde. Ich liebe alte Menschen, aber es tut mir weh, sie in so unwürdigen Situationen zu sehen. Letztes Jahr versorgte ich eine alte Dame mit einer Hautkrankheit – ihre Haut löste sich auf. Das Bild verfolgt mich bis heute.
Mein Make Up ist von Chanel, mein Lieblingsparfum ist Libre von Yves Saint Laurent. Ich will Glamour – und Glamour ist teuer. Vor allem aber brauche ich mein Gehalt, um meine Familie zu unterstützen. Meine Mutter und meine drei Schwestern haben genetisch bedingten Brustkrebs. Ich mache Überstunden, um die Chemotherapie und Medikamente für meine Mutter zu bezahlen.
Wassim aus Marokko: „Vor allem aber brauche ich mein Gehalt, um meine Familie zu unterstützen“
Ich heiße Wassim und komme ursprünglich aus Tanger, einer Großstadt an der Nordküste von Marokko. Arbeiten musste ich schon als Kind. Mit sechs Jahren verkaufte ich zusammen mit meinem Vater für einen Dirham (rund ein Cent) Tee auf dem Markt. Später half ich ihm beim Reparieren von Elektrogeräten. Über die Schule kam ich zu einer Theatergruppe und entdeckte mein Talent fürs Schauspiel. Dann wurde ich über ein Casting für eine Comedy-TV-Show engagiert.
In Marokko war ich ein bekannter Comedian und vom Staat anerkannter Künstler mit einer offiziellen Carte d’ Artiste. Ich hatte viele Auftritte im öffentlichen Fernsehen, bin sogar zur besten Sendezeit bei großen Familienshows aufgetreten. Als Künstler durfte ich auch meine weibliche Seite ausleben und in Frauenrollen auftreten. Ich lebte meinen Traum. Dann aber begann die Presse, mich zu attackieren. „Wassim spielt nicht nur weibliche Rollen, er ist tatsächlich homosexuell“, schrieben sie. Die gleichen Familien, die mich vorher im Fernsehen bewundert hatten, fanden mich plötzlich ekelhaft. Die Fernsehsender und meine Kunden zogen ihre Aufträge zurück.
„Ich glaube nicht an einen Gott, der mich aufgrund meiner Homosexualität tot sehen möchte“
Ich hasse die marokkanische Mentalität und Engstirnigkeit. Ich finde, Religionen sollten Privatsache bleiben. Ich respektiere alle Religionen und glaube auch, dass es einen Ingenieur oder Schöpfer gibt, der dieses Universum voller Wunder erschaffen hat. Aber ich glaube nicht an einen Gott, der mich aufgrund meiner Homosexualität tot sehen möchte.
Vor meiner Flucht habe ich allein in einer geräumigen Wohnung mit Balkon in der Nähe von Tétouan gewohnt und dort neben meinem Beruf französische Literatur studiert. Ich hatte viele gute Freunde. Meistens trafen wir uns bei mir oder bei ihnen zu Hause. Wenn wir ausgingen, hat uns das Taxi immer direkt vor der Tür abgeholt. In Marokko auf die Straße zu gehen, war für mich sehr gefährlich, selbst wenn ich nur ein Wasser am Kiosk holen wollte.
Natürlich ging ich immer ungeschminkt und in unauffälliger Kleidung raus, sonst hätte ich mein Leben riskiert. Durch meine weibliche Art fiel ich trotzdem auf, wurde beleidigt, bespuckt oder sogar zusammengeschlagen. Es gab auch Erlebnisse, an die ich mich nie mehr erinnern möchte. Außerdem drohten mir und meinen Freunden Geld- und Gefängnisstrafen. Im April 2018 verließ ich mein Land.
Rainbow Refugees in Frankfurt – „dank ihnen fühlte ich mich weniger allein“
In meiner ersten Unterkunft in Gießen habe ich mir meine Fingernägel in Regenbogenfarben lackiert und bin rausgegangen. Zwar guckten viele Leute komisch, aber es war nicht verboten. Leider merkte ich schnell, dass es auch in Deutschland keine grenzenlose Freiheit gibt. Drei Mal wurde ich in Frankfurt auf offener Straße zusammengeschlagen. Junge Männer… sie kamen in Gruppen, zu viert oder fünft. Ich erstattete nach jedem Vorfall Anzeige, einige der Täter wurden bestraft. Wir müssen immer kämpfen. Kämpfen wofür? Für Menschlichkeit?
In den ersten Monaten habe ich mich in Deutschland sehr verloren gefühlt. Alles war so anders – die Sprache, die Kultur, die Gesetze. Ich fühlte mich wie ein Kind, das alles neu erlernen musste. Dann traf ich die Rainbow Refugees. Die Menschen dort waren sehr freundlich und sind mir mit Liebe begegnet. Sie begleiteten mich bei wichtigen Terminen und halfen mir auch, die tausend Briefe der deutschen Ämter zu beantworten. Dank ihnen fühlte ich mich weniger allein und hatte schließlich die Kraft, eine Arbeit zu finden und meine Zukunft zu gestalten. Meine Unabhängigkeit ist mir sehr wichtig!
Statt Gefängnis in Marokko – Frankfurt als neue Heimat
Viele LGBTs leben in einer Bubble und gehen fast nur an queere Orte, an denen sie sich sicher fühlen. Aber ich habe doch nicht meine Heimat verlassen, um mich hier wieder einzuschränken. Schließlich habe ich Deutschland nicht zufällig gewählt. Es ist ein demokratischer Staat, die Menschen können hier frei leben und sich frei bewegen. Warum sollte ich nur an "sichere" Orte gehen? Ich will mit Minirock, High Heels und knallroten Lippen durch die Stadt laufen. Ich möchte viele Orte kennenlernen, alles ausprobieren, alles erleben. Ich habe lange genug in einem großen Gefängnis gelebt. Das Gefängnis hieß Marokko.
Mein wichtigstes Ziel ist es, den europäischen Pass zu bekommen. Es wäre wie ein Sieg über mein altes Leben. Dann würde ich mit einem Koffer voller Geschenke für meine Mutter nach Marokko reisen – aber nicht mehr als Marokkaner, sondern als Tourist. Heimat ist nicht der Ort, an dem du geboren bist. Heimat ist der Ort, an dem du dich wie ein Mensch fühlst.
„Ich möchte als Mensch wahrgenommen werden“
Ich möchte nicht über meine Sexualität definiert werden. Das finde ich schlimm! Wieso werde ich ständig nach meiner Sexualität gefragt? Ich frage dich ja auch nicht, was du im Bett treibst. Ich kann es nicht oft genug wiederholen: Ich möchte als Mensch wahrgenommen und nicht in Schubladen gesteckt werden. Solche Kategorisierungen müssen endgültig der Vergangenheit angehören. Wir leben im Jahr 2023!
Info
Das JOURNAL FRANKFURT lädt gemeinsam mit Rainbow Refugees Frankfurt zu Rainbow Stories – Geschichten von queeren Refugees. Einlass ist am 20.10. um 19 Uhr im Walden, Kleiner Hirschgraben 7. Wir haben für unsere Leserinnen und Leser Plätze reserviert. Der Eintritt ist frei, aufgrund der begrenzten Platzzahl bitten wir um Anmeldung unter rainbowstories@t-online.de
/ Kennwort JOURNAL FRANKFURT. Um die Menschen bei laufenden Asylverfahren unterstützen zu können, bittet die AIDS- Hilfe Frankfurt e.V. um Spenden unter www.frankfurt-aidshilfe.de/de/spenden .
Ebenso erschienen ist die Story von Atish aus dem Iran und von Olga aus Kiew. Das Interview mit Gunnar Solka zu den Stories findet Ihr hier.
Mein Make Up ist von Chanel, mein Lieblingsparfum ist Libre von Yves Saint Laurent. Ich will Glamour – und Glamour ist teuer. Vor allem aber brauche ich mein Gehalt, um meine Familie zu unterstützen. Meine Mutter und meine drei Schwestern haben genetisch bedingten Brustkrebs. Ich mache Überstunden, um die Chemotherapie und Medikamente für meine Mutter zu bezahlen.
Ich heiße Wassim und komme ursprünglich aus Tanger, einer Großstadt an der Nordküste von Marokko. Arbeiten musste ich schon als Kind. Mit sechs Jahren verkaufte ich zusammen mit meinem Vater für einen Dirham (rund ein Cent) Tee auf dem Markt. Später half ich ihm beim Reparieren von Elektrogeräten. Über die Schule kam ich zu einer Theatergruppe und entdeckte mein Talent fürs Schauspiel. Dann wurde ich über ein Casting für eine Comedy-TV-Show engagiert.
In Marokko war ich ein bekannter Comedian und vom Staat anerkannter Künstler mit einer offiziellen Carte d’ Artiste. Ich hatte viele Auftritte im öffentlichen Fernsehen, bin sogar zur besten Sendezeit bei großen Familienshows aufgetreten. Als Künstler durfte ich auch meine weibliche Seite ausleben und in Frauenrollen auftreten. Ich lebte meinen Traum. Dann aber begann die Presse, mich zu attackieren. „Wassim spielt nicht nur weibliche Rollen, er ist tatsächlich homosexuell“, schrieben sie. Die gleichen Familien, die mich vorher im Fernsehen bewundert hatten, fanden mich plötzlich ekelhaft. Die Fernsehsender und meine Kunden zogen ihre Aufträge zurück.
Ich hasse die marokkanische Mentalität und Engstirnigkeit. Ich finde, Religionen sollten Privatsache bleiben. Ich respektiere alle Religionen und glaube auch, dass es einen Ingenieur oder Schöpfer gibt, der dieses Universum voller Wunder erschaffen hat. Aber ich glaube nicht an einen Gott, der mich aufgrund meiner Homosexualität tot sehen möchte.
Vor meiner Flucht habe ich allein in einer geräumigen Wohnung mit Balkon in der Nähe von Tétouan gewohnt und dort neben meinem Beruf französische Literatur studiert. Ich hatte viele gute Freunde. Meistens trafen wir uns bei mir oder bei ihnen zu Hause. Wenn wir ausgingen, hat uns das Taxi immer direkt vor der Tür abgeholt. In Marokko auf die Straße zu gehen, war für mich sehr gefährlich, selbst wenn ich nur ein Wasser am Kiosk holen wollte.
Natürlich ging ich immer ungeschminkt und in unauffälliger Kleidung raus, sonst hätte ich mein Leben riskiert. Durch meine weibliche Art fiel ich trotzdem auf, wurde beleidigt, bespuckt oder sogar zusammengeschlagen. Es gab auch Erlebnisse, an die ich mich nie mehr erinnern möchte. Außerdem drohten mir und meinen Freunden Geld- und Gefängnisstrafen. Im April 2018 verließ ich mein Land.
In meiner ersten Unterkunft in Gießen habe ich mir meine Fingernägel in Regenbogenfarben lackiert und bin rausgegangen. Zwar guckten viele Leute komisch, aber es war nicht verboten. Leider merkte ich schnell, dass es auch in Deutschland keine grenzenlose Freiheit gibt. Drei Mal wurde ich in Frankfurt auf offener Straße zusammengeschlagen. Junge Männer… sie kamen in Gruppen, zu viert oder fünft. Ich erstattete nach jedem Vorfall Anzeige, einige der Täter wurden bestraft. Wir müssen immer kämpfen. Kämpfen wofür? Für Menschlichkeit?
In den ersten Monaten habe ich mich in Deutschland sehr verloren gefühlt. Alles war so anders – die Sprache, die Kultur, die Gesetze. Ich fühlte mich wie ein Kind, das alles neu erlernen musste. Dann traf ich die Rainbow Refugees. Die Menschen dort waren sehr freundlich und sind mir mit Liebe begegnet. Sie begleiteten mich bei wichtigen Terminen und halfen mir auch, die tausend Briefe der deutschen Ämter zu beantworten. Dank ihnen fühlte ich mich weniger allein und hatte schließlich die Kraft, eine Arbeit zu finden und meine Zukunft zu gestalten. Meine Unabhängigkeit ist mir sehr wichtig!
Viele LGBTs leben in einer Bubble und gehen fast nur an queere Orte, an denen sie sich sicher fühlen. Aber ich habe doch nicht meine Heimat verlassen, um mich hier wieder einzuschränken. Schließlich habe ich Deutschland nicht zufällig gewählt. Es ist ein demokratischer Staat, die Menschen können hier frei leben und sich frei bewegen. Warum sollte ich nur an "sichere" Orte gehen? Ich will mit Minirock, High Heels und knallroten Lippen durch die Stadt laufen. Ich möchte viele Orte kennenlernen, alles ausprobieren, alles erleben. Ich habe lange genug in einem großen Gefängnis gelebt. Das Gefängnis hieß Marokko.
Mein wichtigstes Ziel ist es, den europäischen Pass zu bekommen. Es wäre wie ein Sieg über mein altes Leben. Dann würde ich mit einem Koffer voller Geschenke für meine Mutter nach Marokko reisen – aber nicht mehr als Marokkaner, sondern als Tourist. Heimat ist nicht der Ort, an dem du geboren bist. Heimat ist der Ort, an dem du dich wie ein Mensch fühlst.
Ich möchte nicht über meine Sexualität definiert werden. Das finde ich schlimm! Wieso werde ich ständig nach meiner Sexualität gefragt? Ich frage dich ja auch nicht, was du im Bett treibst. Ich kann es nicht oft genug wiederholen: Ich möchte als Mensch wahrgenommen und nicht in Schubladen gesteckt werden. Solche Kategorisierungen müssen endgültig der Vergangenheit angehören. Wir leben im Jahr 2023!
Das JOURNAL FRANKFURT lädt gemeinsam mit Rainbow Refugees Frankfurt zu Rainbow Stories – Geschichten von queeren Refugees. Einlass ist am 20.10. um 19 Uhr im Walden, Kleiner Hirschgraben 7. Wir haben für unsere Leserinnen und Leser Plätze reserviert. Der Eintritt ist frei, aufgrund der begrenzten Platzzahl bitten wir um Anmeldung unter rainbowstories@t-online.de
/ Kennwort JOURNAL FRANKFURT. Um die Menschen bei laufenden Asylverfahren unterstützen zu können, bittet die AIDS- Hilfe Frankfurt e.V. um Spenden unter www.frankfurt-aidshilfe.de/de/spenden .
Ebenso erschienen ist die Story von Atish aus dem Iran und von Olga aus Kiew. Das Interview mit Gunnar Solka zu den Stories findet Ihr hier.
3. Oktober 2023, 11.30 Uhr
Rainbow Refugees
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