Zug um Zug im Bahnhof, Zug um Zug in den Kaschemmen des Bahnhofsviertels. Dritter und vorletzter Teil der Pflasterstrand-Serie von Peter Kurzeck, der am Mittwochmittag auf dem Hauptfriedhof beerdigt wird.
Peter Kurzeck /
„In Gedanken noch einmal kippst du alle Gläser und Flaschen deines Lebens in dich hinein: das viele Bier und den teuren und „den billigen Wein und all den brennenden ' Fusel zur rechten Zeit, nicht zu zählen. Wie wenn du einen Abendhimmel sollst leersaufen, so säufst du die Jahre weg und dann steigen sie hoch, und du säufst sie wieder und immer nochmal. Und lebst immer . noch, siehst du.“ An den Rändern zuerst begann der Tag zu vergilben: ganze Stadtviertel von Mietskasernen die, in rauchblauer Dämmerung verschwimmend unwi, derruflich versanken; ganze Stadtviertel längst auf Abbruch verkauft. Wie die Tage und Jahre dröhnend vorbeigestürzt sind: wie Lichter und Echos, verzitternd, leuchten und klingen die Namen, Zeiten und Begebenheiten noch in dir nach; da brüllt auch schon wieder die Musikbox los: Oh Johnny, sing along! Wird Abend, sitzt jeder da und hat eine Geschichte zu erzählen! Und wie das Durst macht! Je später der Abend, ist zuguterletzt jeder erstbeste Fusel uns recht, genau wie am Richtplatz am frühen Morgen.
Die im Jahr 1954 Woche für Woche beim Fußballtoto zwölf Richtige hatten auf dem Papier und von ihrem unverhofften Glück zu Bankrotteuern und zahlungsunfähigen Krüppeln geschlagen wurden: die einen, die kannst du wie alte Zeitungen getrost vergessen! Und die andere Sorte Glückspilze, tlie ihren Gewinn wie einen Wunschring für später zeitlebens nicht angerührt, das ganze Geld bloß als Zahl auf der Bank — als ob es nie existierte: die kannst du gleichfalls ab'! haken und vergessen! Stehen als Fotos feierlich auf dem Büffet im Sonntagswohnzimmer. Wie Embryos in Vitrinen. Die Zukunft ist nicht gekommen! Was bleibt, was du nicht aus dem Kopf kriegst, ob du ! kommst oder gehst: das ist gestern und heute die Summe der Zeit. Hier ist die meiste Zeit Abend. Der Himmel ist eben noch hell, der Tag glüht auf und ertrinkt in den Gläsern und Spiegeln.
Ja, der Suff und die Poesie, das reißt uns so hin und her! Herrgott auch, was für eine anstrengende Arbeit das Vergnügen doch jederzeit ist! Nicht nur für die Profis, die Nutten, die Kellner, die Anreißer und Rausschmeißer, das weiß man ja sowieso (auch dem dümmsten Leser wird es so vorkommen, als hätte er das unklar schon immer geahnt); nein, erst recht auch für die Herrschaften Gäste, die zahlende Kundschaft! Wo sie bloß alle herkommen Tag für Tag? Manche gibt es, die siehst du nie wieder. Andere kommen dir egalweg bekannt vor, vertraute Gespenster; jeder hat seine eigenen. Und da dröhnt auch schon wieder die Musikbox los, wie mitten in deinem Kopf — das sollst du jetzt alles noch austrinken! Singen sollst du! Gefühle auch! Und das Wechselgeld nachzählen nicht vergessen! Schon wird uns der nächste Cognac gebracht, der gleiche Moment, aber zehn Jahre später; leicht sind die Leben nicht, macht ja nix!
Die Gäste, die Kundschaft: jeder für sich, kommt dir vor, wäre anderswo besser aufgehoben, egalwo! Ist keiner ganz bei sich, Vergnügen muß auch sein. Sie hätten besser sich ausruhen, zwölfmal in der Woche das heilige Auto waschen, wie gestern auch früh ins Bett gehen sollen. Endlich den Keller und die Vergangenheit aufräumen, das Gerümpel in ihrem Gedächtnis. Vier Uhr nachmittags, manche gehen dreißig Jahre lang früh ins Bett und wundern sich, wie sie alt werden: wenigstens vorerst noch in keiner Anstalt nicht drin. Putzen, baden, gerührt den eigenen Nachlaß ordnen, immer wieder ordnen; wo ist uns die Zeit denn hin? Mit sich allein unbeholfen ein tiefes Loch graben, sich im Vergessen üben und sachkundig über das Leben nachdenken oder was uns da oft stundenlang nebelhaft vorschwebt, undurchsichtig, ein Bilderrätsel; der Himmel seit Tagen bedeckt. Den längst fälligen letzten Spaziergang, ein Abschied, Namen vergessen, die Zeit wird fristgerecht abgebucht, Dauerauftrag, ewig kommt man und geht: ist gegangen. Ganz fremd schon, wie auf einem Fahndungsfoto. Noch einmal mit der eigenen Frau, gutwillig, nix als Worte, bald bin ich alt. Die Kinder sind aus dem Haus gewachsen und haben uns nicht gekannt, wir haben uns selbst nicht gekannt;
die Kneipe heißt Paradiesgarten und Leo's billige Pilsstube. Pappdeckelpalmen und ein weiter künstlicher Strand; das Gegenteil von einem Jung- und Gesundbrunnen. Noch bei der trostlosesten Arbeit, scheint es, müssten sie weniger stumpfsinnig und deplaciert aussehen! Wie große gefleckte Hunde die nichts zu bewachen haben und spielt auch keiner mit ihnen! Dazu die beständige Sorge ums Geld, Glas um Glas das wachsende schlechte Gewissen! In Kneipen mit Gedeckzwang so tun, als käme es nicht drauf an (die Kellner tun auch so, im Affenfrack, perfekte Gespenster). Und sich pausenlos nicht übers Ohr hauen lassen! Wie blödsinnig rauchen, ununterbrochen rauchen, damit man denken kann, es geschieht was! Mit stierem Blick: He, hier wird nich gepennt! Die einen sind nach einer soliden Betriebssauferei hierhergeraten, Mitläufer, wissen kaum wie: vor drei Stunden nur fünf Minuten (wo ist den die eilige Aktentasche?), die anderen nach längerem Hin und Her im Widerstreit mit sich selbst; wieder andere, die seit Jahren den Ausgang nicht finden — wollten bloß schnell Zigaretten noch holen, den Lottozettel abgeben und höchstens auf ein einziges kurzes Bier! Das war vor gut siebzehn Jahren verloren ein Freitagabend im März!
Am gesündesten noch sehen die Leute auf den Zigarettenreklamen aus, 1,1 mg Nikotin und 17 mg Kondensat (Teer), und in aller Frühe die fleißige Import-Müllabfuhr. Wer da kräht, daß Geld keine Rolle spielt, wird erst recht nicht für voll genommen. Dealer, Agenten, Geheimpolizisten. Mag sein, eine paar Neunmalkluge, die das über Spesen abrechnen, mit Quittung fürs Amt: Bewirtung. Ein paar Zechpreller wird es auch geben, damit das Wort nicht umsonst geprägt und im Umlauf, uns noch ein Weilchen erhalten bleibt. Aber die wirklich feinen Leute lassen sich Suff und Weiber und die Welt nach Bedarf ins Haus kommen, haben die Wahl, schreiben dann einen Scheck aus, lassen ihn ausschreiben! Was Dieb für ein schwerer Beruf ist, da kann sich ein Finanzbeamter überhaupt gar keinen Begriff davon machen.
Die an der Theke stehen, vor vollen, leeren und dann wieder halbvollen Gläsern und immerfort in sich reinschütten: kommunizierende Röhren. Zwölf Mann an der Theke. Und dahinter zwei, die nix tun, als wie immer nur beidhändig nachzapfen im Akkord und Striche auf nasse Bierdeckel, schwitzend, in Hemdsärmeln, Pils und Export: schaffen es kaum! Dann die mühseligen betrunkenen Heimwege, unvermeidlich, nachts und zur Unzeit: die letzte SBahn verpaßt, sobald es zu regnen anfing wie für die Ewigkeit. Mit zwokommadrei Promille am Steuer sich nicht ablenken lassen, auch nicht vom eigenen Halbschlaf: nachts um drei wird himmelan der leere Alleenring zum Zubringer der ungeheuer beschleunigten Milchstraße! Und am nächsten Morgen soll jeder Überlebende wieder zur Arbeit gehen dürfen. Wie nach einem befristeten, noch unerbittlichen Kleinkrieg, Mann für Mann. Das fehlende Geld zählen, immer wieder zählen und wochenlang grübeln, ob die teure Nutte (sowieso ist es wie immer die falsche gewesen) zum Schluß nicht doch noch gekommen sein könnte? Und morgen wieder! Ein Volk von rat- und mutlosen Selbstmördern — wie die Lemminge, bloß daß sie sich auf ihrer Wanderung in den Tod immer wieder heillos verlaufen, verzetteln, vorher noch dies und das (wann sind denn die nächsten Wahlen?) und brauchen Jahrzehnte für Schrecksekunde und Sprung.
Ohne Suff diesen Mangel, mit so wenig Platz um dich herum hälst du das keine halbe Stunde mehr aus, ohne an einer spürbaren Unterernährung der Sinne zu leiden, ein Skorbut für den Geist. Zuguterletzt deine uralte Kindheitsvorstellung von. der Welt als Fiktion, als Verschwörung: daß sie alle nur so tun, als ob sie das tun, was sie tun! Und sobald du den Rücken wendest, wird der ganze Zauber hier abgeräumt: blitzschnell in die Versenkung, Deckel drauf!
Der unterirdische Riesenmaulwurf von Souffleur soeben sanft entschlafen. Sooft du kommst, haben sie es gerade noch geschafft, den ganzen Spuk wieder aufzubauen, hastig und lieblos: mit mehr und mehr Fehlern von Mal zu Mal; sie machen sich kaum noch die Mühe, es zu verbergen!
Und durch alle diese dumpfen fünfziger und frühen sechziger Jahre hindurch siehst du die Bauern in den Dörfern am Ende ihrer damaligen (überkommenen) Achtzehn-Stunden-Tage breitärschig dahocken, wie in einer fremden, namenlosen Vorzeit Abend für Abend in ihren Dorfkneipen hocken und auf der unbequemen eigenen Ofenbank hocken, müd und schwer, und unbeholfen vom Frankfurter Bahnhofsviertel träumen.
Die sonnige Bergstraße hinunter und weit in die fruchtbare Rheinebene hinein. Bis nach Worms und nach Lampertheim. Im Taunus, im Odenwald und im Spessart. In der Wetterau, wenn der Tag geht, und im Vogelsberg, da ist es still. In der Rhön, Bis ins finstere Zonenrandgebiet und ins kalte Bergische Land hinauf sitzen sie und können in Gedanken nicht genug davon kriegen. Weit drin im Badischen noch und in der verdämmernden frommen Pfalz, da träumen sie auch davon; je weiter weg, umso deutlicher.
Wie in den eigenen Köpfen im Gehirnkasten sitzen sie sprachlos. Vielleicht sind sie einmal auf der Landwirtschafts-Ausstellung gewesen und hätten sich mit acht Mann beinah hineingetraut. Von der geschäftigen Düsseldorfer Straße aus über die abgründigen Baustellen hin tollkühn Witze und Blicke riskiert, mit tödlichem Ernst an der nächsten Ecke in einer städtischen Stehbierkneipe im Stehen ein schlecht eingezapftes Stehbier getrunken (Schaum vorm Maul) und dann Schritt für Schritt die leibhaftige Kaiserstraße entlang: schubst einer den andern und hält sich zurück. Ungefähr bis beinah zur ersten Kreuzung. Ja, wenn sie einen Spieß mitgehabt hätten zum Kommandieren, wie seinerzeit bei der Wehrmacht — oder einen anderen Spieß, wie einstmals die sieben Schwaben, und könnten im Gänsemarsch sich daran festhalten: keiner der erste! Dann doch lieber keuchend zurück: schnurstraks in die Bahnhofshalle; den Heimweg nach Fahrplan wissen sie auswendig gottseidank, Zug um Zug.
Lautsprecherstimmen, Heimweh hierhin und dorthin und immer lauter das eigene inseitige Gewissen. Obacht auf Diebe! Das Gedränge betrachten und sich fragen, wer hier kein Dieb ist! Und vier Stunden lang außer Atem einen Zug nach dem andern abfahren lassen, hin- und hergerissen, Herrgott, der eigene Geldbeutel in der eigenen Hosentasche so heiß und feucht, als hätte er vierzich Fieber! Mit dem Ludwich, dem seinerzeitigen Ortsbauernführer, ermäßigt auf der Landwirtschafts-Ausstellung, mit vu die Erwed Kollegen auf der Automobilmesse 1957, mit Frau und Schwägerin beim ungeheuerlichen Winterschlußverkauf auf der verwirrten Zeil (das war 1956 oder 1955, wie sie damals die Aussteuer für die Lina), mit dem ganzen Gesangverein im Sonntagsanzug im Römer gewesen, ein Neubau, mit de Kinner im Zoo (sauteuer und lehrreich), mit dem Müttergenesungswerk im Palmengarten für sechs Mark fuffzich Fahrt und Eintritt, nämlich weil da waren noch Plätze im Bus, nämlich weil der halbe Bus war noch frei, konnten schließlich die Männer auch, Anmeldung beim Heimatvereinsvorstand, sich melden und mitfahren. Für sechs Mark fuffzich.
Es muß ein Sonntag gewesen sein. Haben sie vom Palmengarten aus unverzagt wie die ersten Sterngucker sechs Stunden lang mit bloßem Auge ins Bahnhofsviertel nicht genau die richtige Richtung gewußt — da oder dort? Und mußten immer: Jo hirrelich! sagen, geistesgegenwärtig, wenn die Frau sie wieder dankbar am Arm gezerrt hat von Blüte zu Blüte. Sechs Mark fuffzich. An jedem Grashalm ein wissenschaftliches Türschildchen dran. Jede Frau angegafft, ob sie nicht vielleicht? Und auf der Heimfahrt im Bus voll Sehnsucht und Reue Heimatlieder gesungen, grün is die Heide! Jedem ist ein bißchen zum Kotzen, dafür gibt es Tüten. Und mit dem ganzen schlingernden Bus auf der Autobahn, wie es Nacht wird, in einer fabelhaften Automatenkneipe eingekehrt, kust all Gähäld! Und zum Pissen gehalten natürlich auch. Sie sehen die Lichter ja jetzt noch vor sich, Herrgott, nach gut zwanzig Jahren! Und können nicht aufhören, davon zu träumen, kriegen nie genug in Gedanken, bringen beim Schkat immer wieder geschickt die Rede darauf, Samstagabend beim Louis und im Grünen Baum.
Auch wenn sie nie Lotto spielen, träumen sie dennoch davon. Der Hamannpaul, heißt es, soll da ja ein- und ausgehen: Freundschaftspreise! Mit allen per Du! Der Hamannpaul ist ein Eisenbahner aus dem Nachbardorf und tut den Teufel nicht fürchten! Insgeheim auf der eigenen Ofenbank davon träumen, bei der Feldarbeit davon träumen, beim Anschirren und Viehfüttern. Jeden Tag wieder. Das Frankfurter Bahnhofsviertel. Bei Buderus in Lollar und Wetzlar, uff Schicht im Schamottwerk, in Gladenbach, in Herborn, im Siegerland in den alten christlichen Eisenhütten, an den getauften Hochöfen, bei Opel am Band, aufm Bau (Hoch- und Tiefbau), beim Lahn-Waschkies, in Giessen bei Bänninger und bei den Gail'sehen Tonwerken (man muß dankbar sein für die Arbeit, solang man sie hat), derweil ihre Dörfer zu Vororten und zu Schlafsilos werden; zur Tagesschau davon träumen und zur Spätausgabe der Tagesschau, der Sprecher guckt aus dem Kasten und weiß Bescheid (er kann selbst an nix anderes denken, wie eine Glühbirne leuchtet sein Kopp zu uns her). Auf dem Acker, im Steinbruch, im Sägewerk, Handlanger hier und dort, die Bandsäge kreischt und es geht ihnen nicht aus dem Schädel (wer als Bauer noch überdies Lohnarbeit hat, geht nicht so leicht unter). Beim Schlachten auch, ja ganz besonders beim Schlachten — was das wohl bedeuten mag? Im Frühling beim Mistfahren und beim Holzschlagen im Dezemberwald; jeder zeitlebens sein eigener Knecht, mürrisch und schlecht ernährt.
Sie können mit Fremden nicht reden. Hierzulande der Frühling ist eher so ein Nachwinter der nicht gehen will! Im Stall, in Gedanken, mit sich allein tun sie die eigenen sanften zwo mageren Kühe, die Lies und die Elsbeth, beide auch schon nicht mehr die jüngsten, als Frankfurter Bahnhofsnutten titulieren und tätscheln: freßt euch nur halbwegs satt! Wenigstens einmal im Leben mit der eigenen Frau ... vorsichtig eine Sprache — wie finden? Viälleicht könnten wir dann in Ruhe auf den eigenen Tod hin und es besser ertragen, doch das ist leider ganz und gar undenkbar, wir brächten es in Wahrheit auch gar nicht fertig, lieber doch lebenslänglich geduckt im eigenen Schädel gefangen.
Noch schlimmer, als es damit losging, daß sie anfangen konnten, ihre ehemals entlegenen steinigen Handtuchäcker aufzuteilen wie Kuchen und als Bauplätze zu verkaufen, händereibend, am liebsten hätten' sie jeden drei-viermal verkauft: am liebsten verkauft und dann doch selbst gefressen! Das Geld einerseits in der Scheune vergraben (für die Ewigkeit), andrerseits pfennigfuchserisch in den eigenen Anbau gesteckt (der nie fertigwird), aus Not fünfmal anund umgebaut und sich solchermaßen nach Feierabend noch abgeschafft zu Frühinvaliden. Wie der Traum an uns zehrt, eine Krankheit, die uns überlebt!
Wieviel unerklärliche Arbeitsunfälle zurückgehn auf diesen Traum, läßt sich nicht einmal schätzen. Noch schlimmer, als sie oder ihre Söhne (die haben mit der Sprachlosigkeit auch den Traum geerbt) zu Autobesitzern wurden — Frankfurt am Main 66 km. Alle Wegweiser meinen das Bahnhofsviertel (da hinter den Wolken im Abendrot); der Liter Super hat jahrzehntelang höchstens sechzich Fennich gekostet, aber auch mit dem eigenen Auto sind sie immer nur off die Erwed gefahren, pünktlich. Am schlimmsten quält sie der Traum ganzjährig nachts im eigenen halben Ehebett im Oberstock in der Schlafkammer: daneben die eigene Frau schläft wie ein schnaufender Berg; seit Jahrzehnten, schon seit dem dritten Kind schläft sie so und uns bleibt kaum Platz zum Atmen, heiß und verschwitzt wie damals der Geldbeutel in der Hosentasche im Hauptbahnhof: sie haben ihn jetzt noch!
Am schlimmsten die Abende im Frühling, im Sommer, im Herbst und im Winter, am allerschlimmsten samstags die Abende, wenn sie zur Unterhaltung die Straße vorm Haus gekuohrt, also gekehrt, haben, der Nachbar auch, und es will nicht dunkel werden; da ist es kaum auszuhalten! Von hier aus: in weiter Ferne, im letzten Licht, am äußersten Rand des Tages siehst du sie vor den Hoftoren stehen, beim Louis auf der Treppe stehen. In der Vergangenheit. Im Grünen Baum siehst du sie sitzen und unter der eigenen honiggelben Küchenlampe. Seit ungefähr 1962 (wie die Zeit vergeht) auch wie vernagelt vor dem eigenen staatlichen Fernsehn. So naturgetreu wie auf Breughelschen Bildern sitzen sie, eingesponnen ins Licht: wahrhaftig, wie in vollen, leeren, halbvollen Bierflaschen drin siehst du sie sitzen, gefangen in diesem Traum!
Aus: Pflasterstrand 190 vom 10.8.1984. Das Foto hat unser Fotograf Harald Schröder 1989 vom Autor gemacht.