Peter Kurzeck: Mein Bahnhofsviertel (4. Teil)

"Ich sitze hier und habe noch lange nicht ausgeträumt!"

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GIs, die mit dicken Schlitten von Giessen nach Frankfurt fahren und im Bahnhofsviertel weiterfeiern, in einem Viertel, in dem sich Istanbul spiegelt. Letzter Teil der Serie von Peter Kurzeck - ein Wochenend-Lesestück.

Peter Kurzeck /

Giessen an der Lahn, in jedem Winkel noch nisten die Alpträume unserer Vorväter. Mein Freund Eckart und ich, wenn wir samstags nach Frankfurt wollten, gewöhnten uns an, die Stadt zu Fuß zu verlassen; Zeit genug. Wir gingen und hörten die Züge fahren vom Bahngelände herüber. Unterwegs erzählt er mir, wie er seinen Markt weiter ausbaut und die Filme der Woche. Die meiste Zeit geht es bergauf. Nie wieder seither sind so gute Filme gemacht worden wie die, die er mir erzählt hat. Mein ganzes Leben lang werde ich nicht mehr ins Kino gehen, höchstens als Filmrezensent oder Kultusminister. Bevor wir es richtig merken, sind wir schon bei der rostigen alten Eisenbahnbrücke von Kleinlinden und finden kein Ende. Aus jedem Film wird ein noch besserer Film. Sie hieß Marion und warum sollte er nicht heute noch genauso in sie verliebt sein und sooft er an sie denkt, den gleichen frohen Schreck spüren wie angesichts der Ewigkeit, wie am ersten Tag?

Sie hatte Klavierstunden und Ballettunterricht. Weite Wege die er jeden Tag ging und wiederging, um ihr mit einiger Sicherheit zufällig zu begegnen: er brachte es fertig, ihr auf dem gleichen Weg drei-viermal zu begegnen, ohne dabei außer Atem zu sein. Wenn es zu heiß war, trug er seine Jacke über dem Arm: 69.— Dollar. Er führt jetzt auch Cadbury-Schokolade, zwei Sorten, spanischen Sekt und spanischen Brandy. Immer auch die verschiedenen (zahlreichen) Zukünfte mit denen wir uns notwendig abschleppten. Unter der Brücke durch, sie brütet den Abend aus. Soll er nicht künftig auch Government-Milch aus der Officers Mess? In Tüten und Pappkartons — damals gab es hierzulande noch Milchläden und Milchflaschen und z.B. in Giessen in den besseren Vierteln sogar gestiefelte oberhessische Milchmänner die, auf jedem Kopf eine Fuhrmannsmütze, mit Flaschen und Kannen scheppernd in aller Frühe den Tag herbeibrachten. Von Haustür zu Haustür. Wie frische Sahne die Morgen und wenn ich jetzt daran denke, kommt es mir wie ein anderes Zeitalter vor, wie aus einem Bilderbuch. Das Government-Benzin ist eigens gefärbt, damit man es mit dem Markt nicht so leicht hat, die Milch aber vorerst nicht.

Bloß die Milchkundschaft fehlt noch, hingegen als eifrige tägliche Verteiler hätte er jetzt schon die Kaugummikunden unter den Schülern, für je drei Straßen ein Schüler, Unterstufe. Sie könnten acht oder neun Jahre alt sein, das reicht. In Wieseck kennt er einen ehemaligen Gastwirt und Metzger der jetzt, zerfallen mit sich, mit Gott und der Welt, tropische Vögel züchtet, der ihm einen 400-Liter-Kneipenkühlschrank entweder spottbillig oder ganz umsonst, aber wohin damit? Ob das Volk sich an die Tüten gewöhnen könnte? Wenn ich ihn richtig verstand, sollte die Milch gar nichts kosten, Rationsware, es gab Küchenhelfer und Notausgänge; ein Transportproblem. Es gab sogar eine Laderampe. In Kleinlinden in einem Hof sahen wir einen Neger glücklich bei seinem Auto sitzen. Jeden Samstag. Ein ehemaliger Bauernhof, das Hoftor stand offen. Das Auto stand mit offenen Türen im Hof, Kofferraumdeckel und Kühlerhaube hochgeklappt, ein mitternachtsblauer Studebaker Golden Hawk, der letzte Studebaker der gebaut wurde.

Der Neger saß im Hawaiihemd auf einem Klappstuhl daneben, im Autoradio The AFN Saturday Afternoon. Vier Uhr nachmittags, er saß da und trank Büchsenbier. Mit Sonnenbrille, es gab keine trüben Tage. Und streckte die Füße von sich, in Slippern mit weißen Einsätzen. Die vollen Bierbüchsen in einem Karton auf dem uralten Erdboden. Vom zweiten oder dritten Samstag an schien er auf uns gewartet zu haben: wir winkten und er lachte und winkte mit der Bierbüchse. Mit all seinen offenen Klappen und Türen stand der Studebaker da wie zum Fliegen gemacht: als würde er gleich davonfliegen. Wenn wir spät sind, über dem Hof die Schwalben.

Am Ortsende von Kleinlinden, die Straße führt sanft bergauf. Als ob man hinter den letzten Häusern in den heutigen Abendhimmel gemächlich hineinspaziert, siehst du, da gehen wir! Am Waldrand, wir hatten kaum angefangen zu winken (oder ist uns, während wir zahllose Zigaretten rauchten, die Zeit wie im Flug vergangen?), als auch schon ein Auto für uns hielt. Wie bestellt. Damals galt Trampen hierzulande als neu­modische ausländische Unsitte (es gab sogar Amtspersonen die einem einreden wollten, es sei verboten und strafbar; ihre Welt bestand aus Brieftaschen- und Triebtätern: leicht wird man zum Opfer, schnell auch zum Mörder!) und man mußte es nicht einmal besonders drauf anlegen, um mehr von Amerikanern als von Deutschen mitgenommen zu werden; wenigstens samstagabends zwischen Giessen und Frankfurt, wenigstens in meiner Erinnerung ist es so gewesen. Einmal in einem nagelneuen goldenen Heckflossen-Plymouth, der Fahrer ein Panzersergeant aus den Ray Barracks, 3rd Armor Division, hatte ihn eben aus Bremerhaven geholt, hatte schilfgrüne Fischerstiefel an bis über die Knie — ich habe anderswo schon über ihn geschrieben: das ist jetzt, als ob man einen alten Bekannten trifft. In diesen Fischerstiefeln muß er von Bremerhaven aus durchgefahren sein bis hierher, bis Friedberg. Ich hörte ihm zu und sah dabei die Schiffe hin- und herfahren durch Abendhimmel.

Damals muß er jünger gewesen sein als ich jetzt, doch kam mir uralt vor oder jedenfalls ganz und gar erwachsen und jenseits — und jetzt ist er wirklich alt und sitzt vielleicht in Montana vor einem Reihenhaus oder vor einer Blockhütte (vor einem als Blockhütte getarnten Reihenhaus) und sitzt täglich unter den dortigen Abendhimmeln und sitzt da und hat eine Geschichte zu erzählen. Er kann froh sein, wenn es sein eigenes Haus ist vor dem er sitzt. Sogar nach der langen Strecke fuhr, er noch einen Umweg extra für uns. Man kann ihm auf seine alten Tage nur wünschen, daß er sich erinnert! Und einmal in einem riesigen hellblauen Chrysler Imperial oder Saratoga der 230 Stundenkilometer fuhr; der Fahrer sah aus wie Elvis was damals nicht so eine Seltenheit war (wie unsre Gesichter doch weit mehr noch als uns der Zeit angehören und sind ihr verfallen). Er muß betrunken oder verrückt gewesen sein in seinem roten Hemd, beides am Samstagabend und zu seinem Unglück verliebt, denn kaum sind wir strahlend eingestiegen, da fuhr er diese 230 Stundenkilometer tatsächlich — der Motor ist vielleicht für so ein Tempo gemacht, doch Bremsen, Fahrwerk und Radlager sind es schon meistens nicht, die Menschen erst recht nicht und auch nicht die Sommerabende.

Es war, bevor die B3 ausgebaut wurde. Er hatte uns hinter Langgoens aufgelesen, mitten in einem wichtigen Gespräch, und Butzbach flog gleich darauf wie ein verlassener Jahrmarkt davon. Das Korn stand schon hoch, golden. Wir hatten alle Fenster offen, im Radio ein Schlagzeugsolo, die Felder rauschten vorbei und die Feldwege rechts und links, die Sommerwege mit Fahrspuren aus rotem und weissem Sand rannten leer auf den Horizont zu, in den Abend hinein. Wieviele unübersichtliche Kurven die B 3 damals noch hatte und wie sie sich schlingernd um uns herum und quietschend vorüberdrehten, als würden die Kornfelder gleich über uns zusammenschlagen, rauschend, in Wellen, ein goldenes Meer. Wieviel Bäume es damals noch gegeben haben muß die Straße entlang, wir hörten die Vögel singen zur Fahrt und in den Kurven übertönten sie die Musik und den Fahrtwind.

Damals wußte ich jeden Moment, daß mir gar nichts passieren konnte! Seit ein paar Jahren weiß ich das nicht mehr so sicher, nicht bei allem und immer. Er ließ uns am Ende von Friedberg aussteigen, bei einer Tankstelle, an der Abzweigung nach Bad Homburg. Er stieg aus und zog zu seinem roten Hemd eine weiße Jacke an, eilig; wir zogen auch unsre Jacken an. Wenn wir den Markt erst weit genug ausgebaut hätten, würden wir uns auch solche weißen Jacken kaufen; ein endloser Sommer. Es war nach der, schnellen Fahrt eine neue Erfahrung, zu merken, daß man die eigenen Glieder alle noch hatte, vollzählig und beweglich und ein jedes an seinem Platz. Er lachte zum Abschied wie ein Plakat. Plötzlich kamen mir Zweifel, ob er bei seinem Tempo überhaupt wüßte, wo wir hier sind, wo er hinwill und was Europa eigentlich ist!

Wie verwandelt, zurückverzaubert in unsre wahren Gestalten standen wir am Rand des Bürgersteigs und sahen ihm nach wie er, mit seinen roten Rücklichtern grüßend, wieder die Heckflossen ausbreitete und nach Westen zu in den Abendhimmel hineinflog, riesig und hellblau. Die Musik wehte wie bunte Tücher hinter ihm her und golden der Staub der Straße. Richtig da bist du erst, wenn du nicht mehr weißt, wo du bist!

Meistens brauchten wir zwei Autos für die Strecke oder jedenfalls war es uns so am liebsten. Durch Friedberg zu Fuß als Fremde: hellsichtig die ewige einzige Hauptstrasse entlang, mit dem Abend vom einen zum andern Ende. Schon damals war da ein Eiscafe in dem es Espresso gab. Als ob man für zehn Minuten glücklich in Italien sitzt, eben angekommen, ein geborener Venezianer. Viele Vergangenheiten. Immer in Friedberg auf der Hauptstraße mußte ich denken, daß ich eines Tages alles wissen und sehen und sein würde, alles gleichzeitig. So mild ist das Licht, eh es geht. Wir gewöhnten uns an, rechtzeitig eine Flasche Wein zu kaufen für unterwegs. Wir hatten nie einen Korkenzieher, mußten die Flaschen immer gleich im Laden aufmachen lassen, den Korken dann vorsichtig mit der Hand — besser gleich zwei Flaschen kaufen! Einen Korkenzieher kaufte ich mir erst, als ich im nächsten Jahr zum erstenmal nach Paris fuhr. Die ganze Zeit Mai, Juni, der Sommer. schien immer gerade erst anzufangen, so lange helle Abende, einundderselbe Sommer!

In den Dörfern, es gab noch keine Umgehungsstraßen, in den Dörfern waren sie immer dabei, die Straße zu kehren oder gerade eben damit fertig geworden, Einwohner, Seßhafte. In Samstagsstimmung. Oder kehrten sie auch zwei-dreimal, die Nachbarn genauso: jeder Nachbar muß mitkriegen, daß man auch wirklich die Straße gekehrt hat; sind wir nicht die Nachbarn von unseren Nachbarn? Oder standen bei den Hoftoren und wurden immer kleiner (jetzt sind uns nach der langen Woche auf einmal die eigenen Hände im Weg: man weiß nicht wohin damit); noch lang bis es dunkel wird. Manchmal unterwegs gelang uns der Släng so gut, daß die Fahrer uns bis ans Ziel kaum glauben konnten, daß wir keine erfolgreichen jungen Amerikaner seien (je besser der Släng, umso dümmer die unbelehrbaren Englischlehrer). Während einerseits der Sommer wuchs und wuchs und kein Ende nahm, reichten uns andrerseits diese Samstagabende nie ganz aus, reichten immer weiter in den hellblauen Sonntag hinein, oft bis zum Montagmorgen. Schwer war es dann, ein Ende zu finden, das heißt einen Anfang für die folgende Woche: zweierlei Zeit! Mit fünfzehn mein erstes Glas Wein getrunken und dann einundzwanzig Jahre lang nicht mehr nüchtern geworden. Jede Handbreit Himmel den ganzen Weg entlang auswendig gewußt! Die Gegenwart, das ist doch nicht einfach bloß jetzt! Von meinem Freund Eckart wollte ich erzählen und von seinem Markt, von der Zeit (wo sie hin ist) und laut Absprache mit dem Pflasterstrand dazwischen auch noch ein bißchen vom Bahnhofsviertel. Erst jetzt wird mir klar, wie lang meine Jugend schon dauert und was für eine anstrengende Zeit in unserem Leben ist doch die Jugend. Jetzt reicht der Platz schon wieder nicht aus! Bleibt zu berichten wie er nach zwei oder drei Jahren in der Untersekunda anfing, die Übersicht zu verlieren, weil der Markt ihn fast auffraß, weil seine Mutter ihren verjährten Traum nicht aufzugeben vermochte und ihm Nachhilfeunterricht für sämtliche Haupt- und Nebenfächer verordnete, sodaß von den ehemals freien Nachmittagen nur Bruchstücke übrigblieben, ein täglicher Scherbenhaufen. Und während er noch der Zeit hinterherrannte, die Wochentage, Haupt- und Nebenfächer und zugehörige Nachhilfelehrer durcheinanderbrachte (von diesen geldgierigen Greisen wohnt jeder an einem anderen Stadtrand), sogar Taxi fuhr fürs Geschäft und sich Quittungen geben ließ und sie sorgsam in den Jackentaschen verwahrte ohne die Aussicht sie je auch nur teilweise von der Steuer absetzen zu können (im Gegensatz zu jedem anderen Krämer) und überdies jeden Tag wieder und ohne Ende die gleichen alltäglichen Straßen gehen mußte, in Giessen, nach Plan und Eingebung, um des glücklichen Zufalls willen, um dieser Marion zu begegnen und jäh wieder den gleichen frohen Schreck zu spüren, süchtig danach, alle steinernen städtischen Nachmittage, wie wenn dir eine Welle immer neu sacht ans Herz schwappt!

Morgens sieht er sie in die Schule gehn; nachts schrieb er sein Tagebuch für sie um, Nacht für Nacht — für den Fall, daß sie es später, nach Jahrzehnten ungetrübten Zusammenlebens, zu lesen verlangt; beide wären sie alt und hätten keinerlei Sorgen und Zahlungsverpflichtungen, zufrieden-zufrieden, nie Streit, mehr fiel ihm nicht ein. Vielleicht daß sie beide beim Film wären dann, ein Jubelpaar seit Jahrzehnten. Er wird mir das nie verzeihen, liest aber vielleicht auch nur den Stern und die Rundschau. Ich glaube, er schrieb sich Sätze auf, die ich nichtsahnend nebenbei sagte, um sie nachts heimlich für die Aufbesserung seines Tagebuchs zu verwenden. Bleibt zu berichten, wie seine Mutter schließlich letztendlich (man kann das nicht umständlich genug ausdrücken) zu der Einsicht gelangte, daß sie ihren abgenutzten Traum doch aufgeben müßte oder wenigstens langfristig umarbeiten lassen auf eigene Kosten; ich glaube, es wurde so ein offizieller Kuhhandel, daß sie ihm die Mittlere Reife bescheinigten, wenn er dafür von der Schule abginge. In der Kaiserzeit wäre es immerhin noch das Einjährige gewesen.

Wie der Markt, sein Markt ihm entglitten ist (als ob ein Kontinent sich vor unseren Augen in lauter Inseln und Inselchen auflöst die, ungeheurer Abdrift unterworfen, immer schneller immer weiter davonschwimmen, unwiderruflich), weil ihm nach den letzten geschenkten Ferientagen außer der Reihe nichts übrigblieb, als ebenfalls eine Lehre anzufangen die ihn nix anging, weil fortan auch seine Zeit regelmäßig fristgerecht abgebucht wurde, Dauerauftrag. Und inzwischen hat die NATO ihr Verteidigungskonzept geändert und geändert und meines Wissens gibt es überhaupt keinen Markt mehr, Lehrstellen nur noch durch das Bundeskanzleramt und die Bildzeitung, obwohl die heutigen Gewinnspannen größer denn je sein müßten. Statt sich die vergänglichen Feierabende für Zigaretten und Whisky wenigstens aufzusparen (die einzigen Posten die regelmäßig einen guten Gewinn brachten, beinah mühelos), verzettelte er sich hektisch mit Vier-Dollar-Fotozeitschriften, mit Parker-Kugelschreibern und Scheckbuchhüllen aus Alligatorenleder, ein verquerer Idealismus. Die Verluste hingen uns schon zum Hals heraus. Seine Mutter las Bücher über Jugendprobleme und kaufte den ersten Fernseher.

Was lag näher, als diese Serien von sich überstürzenden Verlusten und den ewigen Zeitmangel mit einem einzigen großen Schlag auszugleichen, ein AmericanExpress-Geschäft das dann auch fristgerecht schiefging: er konnte genau erklären, nach Jahren noch, warum es eigentlich hätte klappen müssen, todsicher und Geld wie Heu!

Übrig blieb ein Stapel Blues-Platten, die es damals in Plattenläden hier nicht zu kaufen gab, die aufzutreiben ihn zwei Jahre lang genausoviel Zeit und Mühe gekostet haben muß wie sein Markt. Ohne den Markt wäre es gar nicht möglich gewesen. Die Sänger hatten Namen wie Big Joe Williams, Memphis Slim, Sonny Boy Williamson, Washboard Sam und Louisiana Red, solche Namen! Und es war immer ihre eigene Liebe, ihr eigener Suff und'ihr eigenes Unglück was sie sangen. Und die Arbeit, Herrgott, jetzt reicht der Platz nicht, um auf jeden Blues ein Gedicht zu schreiben! Und fortan viele Werktagabende saßen wir in seinem Zimmer und hörten diese Platten.

Von Mal zu Mal besser unsere Übersetzungen. Während es vor dem Fenster dunkel wurde, gemächlich, und dunkel blieb, lang, und manchmal auch wieder hell wurde, fast unmerklich zuerst und dann nicht mehr zu übersehen. Und tranken dazu nach und nach den restlichen Whisky aus, noch übrig vom Markt, Gallonen und halbe Gallonen, und den spanischen Brandy und einen Restposten spanischen Sekt, roten, was insgesamt ziemlich lang dauerte. Und rauchten stangenweise spottbillige Amizigaretten dazu, als sei eine Haussuchung zu erwarten und wir müßten diesen Bestand an Beweisstücken vorher vernichten durch ordnungsgemäßen Konsum; seither Kettenraucher.

Und ich sehe uns jetzt noch, wie wir uns wieder einen Samstagabend auf den Weg machen (wann ist es denn dunkel geworden?); noch auf der Treppe dachte ich, daß nun doch bald Spätsommer sein würde und also auch dieser Sommer wider jegliche Vernunft und Erwartung früher oder später sein Ende fände und als wir gleich darauf aus der Haustür traten, hatte es zu schneien angefangen; die Tür fiel hinter uns zu.

Die Schottstraße in Giessen ist eine ruhige Seitenstraße von einer mäßig belebten Seitenstraße, schon immer. Obwohl man nicht weit hat ins Zentrum, ist es dem Anschein nach eine klassische Vorortstraße. Zu jeder Tageszeit. Beinah niemals zieht jemand um. Man sieht die Kinder groß werden und die Leute alt werden, die da wohnen. Und wenn man einen, den man altwerden sah, schließlich nicht mehr sieht, länger als eine Grippe dauert oder ein Urlaub, dann weiß man, daß er verstorben ist oder in ein Heim, was das gleiche bedeutet: nämlich daß man ihn fortan nicht mehr sieht. Den Brauereischornstein sieht man und wenn der Himmel bedeckt ist und der Wind matt und zittrig zu Boden taumelt, dann riecht es dort in den Seitenstraßen tagelang nach Hopfen und Gärung. Immer stärker riecht es danach; als ob die Stille selbst und die Trübnis an solchen Tagen den Geruch ausbrüten. Diese Brauerei war es, in der mein Freund Eckart ohne Abitur seine erste Lehre anfing. Wie ein finsterer Dom steht die Brauerei Tag und Nacht über allen Seitenstraßen des Viertels, wie ein Krematorium.

Samstagabend, es schneit, es ging schon auf zehn. Zu Fuß unterwegs, Riesenschritte, wir wollen in die Atlantik-Bar, das ist eine Negerkneipe hinterm Bahndamm. Nicht weit vom Güterbahnhof, nicht weit von der eingemauerten Lahn und den städtischen Gaskesseln. Nicht weit vom Notaufnahmelager und dem alten Schlachthof. Im Krieg ausgebrannt und nur halb wieder aufgebaut, wie ein hohler Zahn steht die Atlantik-Bar hinterm Bahndamm, zwischen Schuppen und Lagerhallen, und die Züge rasen vorbei. Drei Treppen davor, das Neonlicht abwechselnd blau und rot. Immer mehr Schnee; wir haben (in einer Tüte die langsam durchweicht) eine Gallonenflasche Whisky mit, die vorletzte, um sie dem Markt zurückzuverkaufen, eine Flasche Jim Beam mit Griff. Und eine (im Vergleich dazu winzige) Flasche spanischen Brandy für unterwegs, für uns selbst: schon angebrochen, ein dreiviertel Liter. Und umsichtig alle Taschen vollgestopft mit Amizigaretten, wie um nicht mehr zurückzukommen. Immer mehr Schnee, wir gehen durch die Nacht und das wechselnde Licht auf den Eingang zu, da spielt die Musik, ein Blues, wir erkannten ihn gleich. Und wie es darin richtig heißt: Jeden Abend, wenn die Sonne untergeht, Schätzchen, fährt ein Zug in den Süden, das stimmt, das ist wahr!

Immer mehr Schnee, wir haben — wie in alten Zeiten, bevor wir den Markt und seine Möglichkeiten für uns entdeckten — zusammen ungefähr 5 Mark 80 einstecken; dazu kommt das Geld für den Whisky, vier Dollar vielleicht oder sechs (der Dollar stand noch auf vierzwanzig), und wir wollen versuchen, in der Nacht im Gestöber ein Auto nach Frankfurt zu finden. Eben noch allgegenwärtig der Sommer, auf einmal blickst du auf und es schneit!

Die Neger fuhren lieber uralte Lincolns und Cadillacs und höchstens noch mittelalte Buicks, als neue Dodges und Chevys. Sie fuhren mit je einer Flasche für jeden im Auto den ganzen Abend immer wieder von einer Negerkneipe zur andern, allein in Giessen gab es jederzeit mindestens fünf und noch zwei oder drei in den Vororten; sie hatten immer die beste Musik. Nie werde ich ihre nächtlichen Gelächter vergessen. Den ganzen Abend von Kneipe zu Kneipe gefahren, ja Mensch, und dann tun sich die besten von ihnen zusammenfinden um Mitternacht und fahren mit drei oder vier Autos nach Frankfurt.

Kein bißchen müde! In ihren Lincolns und Cadillacs, jeder könnte eine ehemalige Präsidentenkutsche sein, ist ihnen in der Nacht jedes Wetter recht, ja klar, Mann, is doch uns kein Problem nich! Wir fahrn jetz gleich los. dann! Wo ist die Zeit denn hin? Das nächste Mal, wenn ich über das Frankfurter Bahnhofsviertel schreiben soll (vielleicht für ein aufgeschlossenes Kirchenblättchen, wer weiß, wo ich dann sitze), will ich unterderhand von Marseille und Istanbul erzählen! Von Üsküdar, der anderen Seite von Istanbul aus, sieht man das Frankfurter Bahnhofsviertel wie in einem Spiegel die andere Seite der anderen Seite von Istanbul, wie den seinerzeitigen Markt, wie eine Herde altmodischer kleiner Inseln davonschwimmen, Europa, und versinken in Abend und Rauch. Asien mit den einfältigen bunten Lämpchen von Üsküdar und den unentwegten Zeltfeuern der Mongolen hat sich hinter uns steil aufgerichtet in der Nacht die von Osten kommt und das Frankfurter Bahnhofsviertel schwimmt gen Westen im letzten Licht unter drei oder vier silbernen Halbmonden und einem einzigen roten Stern als letzter Zipfel und Schnörkel des untergehenden Abendlandes. Hier an diesem Küchentisch der mir nicht gehört: zehn Uhr abends im Juli und ich sitze hier und habe noch lange nicht ausgeträumt!

Aus: Pflasterstrand 191 vom 24.8.1984.

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Weiterlesen? Das Werk des kürzlich verstorbenen Frankfurter Autors ist im Stroemfeld-Verlag erschienen.


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