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Konzert im Jazzkeller: Helmut Breuer (b), Ernst Albrecht (dr), Bernhard Kirchgesser (git), Rolf Lüttgens (p) und Heinz Sauer (sax) © Institut für Stadtgeschichte, Archiv Jazzinstitut Darmstadt
November-Titelstory
Ein Jahrhundert Jazz in Frankfurt
Vor rund 100 Jahren kam der Jazz aus den USA nach Frankfurt. Das JOURNAL blickt zurück auf die Entwicklung des Jazz von der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart.
Frankfurt in Trümmern
Das Kriegsende empfanden die Jazzfreunde nicht als Niederlage, sondern als Befreiung: „Wir dürfen wieder frei denken, wir dürfen wieder alle Musikinteressen vertreten ... Es gibt keine verbotenen Radiostationen mehr. Wir sind wieder frei in Wort und Geist“, ist in der ersten Nachkriegs-Ausgabe der Jazz-Club News zu lesen, die von Horst Lippmann mit Kohlepapier auf der Schreibmaschine vervielfältigt wurde.
Dass die amerikanischen alliierten Streitkräfte ihr Hauptquartier am Main aufschlugen, war für die Jazzszene ein Glücksfall. Schon neun Tage nach der Kapitulation bekam Carlo Bohländer eine Auftrittsgenehmigung für die Hot Club Combo. In den Clubs der GIs hatten die Frankfurter Jazzmusiker bald gut zu tun, und auch im zerstörten Frankfurt war die Nachfrage nach Unterhaltung und Ablenkung bald wieder groß.
Wenige Schritte vom Jazzkeller entfernt liegt das Jazzhaus, ein mittelalterliches Fachwerkhaus. Es beherbergte eine Kneipe und diente dem Hot Club Frankfurt und der 1952 gegründeten Deutschen Jazz Föderation als Vereinssitz
Die Gaststätte Bayernhof, die Horst Lippmanns Eltern im Bahnhofsviertel betrieben hatten und ein beliebter Treffpunkt der Jazzfreunde gewesen war, war im Krieg zerstört worden. Nach Kriegsende konnten sie günstig die schräg gegenüber des Hauptbahnhofs gelegene Ruine des Grandhotels Continental erwerben. Zunächst war nur das Erdgeschoss zu benutzen, später auch der erste Stock, der mit einem behelfsmäßigen Dach gegen Regen geschützt war. Bald veranstaltete Horst im At Lippmann’s auch Jazz Sessions, bei denen die Hot Club Combo spielte und Anziehungspunkt für jazzbegeisterte Deutsche sowie amerikanische Soldaten wurde.
„Die Sessions ginge von abends um acht bis morgens um sechs, denn in dieser Zeit gab’s noch die nächtliche Ausgangssperre. Also musste mer abends anfange und dann die ganze Nacht durchjazze, bis mer morjens wieder auf die Straß’ konnt. Und trotzdem warn diese Sessions überfüllt. Des war ne unglaubliche Atmosphäre.“
Zu den wenigen Frauen im deutschen Jazz gehörte die Pianistin Jutta Hipp (hier mit Carlo Böhländer). 1955 verließ „Europe’s First Lady in Jazz“ Frankfurt und ging nach New York. Dort startete sie erfolgreich und nahm für Blue Note Schallplatten auf. Dennoch gab sie den Beruf der Musikerin bald darauf auf und geriet in Vergessenheit
Nach dem Vorbild französischer Bohème-Clubs gründete Carlo Bohländer 1952 das Domicile du Jazz. Im noch intakten Gewölbekeller eines ansonsten von Bomben zerstörten Hauses in der Kleinen Bockenheimer Straße entstand das „Wohnzimmer“ und „Trainingslager“ der Frankfurter Jazzmusiker, der heutige Jazzkeller.
1953 organisierten Horst Lippmann (der später mit seiner Konzertagentur Lippmann & Rau äußerst erfolgreich wurde) und die neu gegründete Deutsche Jazz Föderation das erste Deutsche Jazzfestival, das heute vom HR fortgeführt wird und als weltweit ältestes Jazzfestival gilt. Für die Radiosender von AFN und HR produzierten Horst Lippmann und Olaf Hudtwalcker Jazzsendungen, später entstand mit „Jazz – gehört und gesehen“ sogar eine (wiederum weltweit erste!) Jazz-Fernsehsendereihe. Mit Jazz im Palmengarten wurde 1959 eine weitere traditionsreiche Veranstaltung ins Leben gerufen – auch sie hält heute einen Rekord als weltweit älteste Jazz-Open-Air-Reihe.
Nach dem Jazzkeller gründete Carlo Bohländer 1955 in der Stiftstraße das Storyville – The House of Jazz, und später mit dem Down by the Riverside und der Balalaika noch zwei weitere Lokale
Frankfurt avancierte in den Wirtschaftswunderjahren zur Jazz-Boomtown. In den Deutschen Jazz-Polls (einer Leserumfrage des Herrenmagazins Die Gondel) belegten Frankfurter Bands die ersten Plätze. Frankfurt zog viele weitere erstklassige Jazzmusiker aus ganz Deutschland und dem Ausland an. Der Frankfurter Hot Club wurde zum Nucleus, zur Keimzelle des deutschen Nachkriegs-Jazz. Und die Jazzstadt Frankfurt strahlte auch über die Landesgrenzen hinaus.
1957 organisierte Werner Wunderlich eine Konzertreise der Frankfurt All Stars nach Polen. Diese Reise hinter den Eisernen Vorhang war die erste polnisch-deutsche Kulturbegegnung im Kalten Krieg, und die Musiker um Emil und Albert Mangelsdorff und Joki Freund waren somit nicht nur auf musikalischer, sondern auch außenpolitischer Mission.
Auf die Initiative Horst Lippmanns entstand 1958 das Jazzensemble des Hessischen Rundfunks. Dusko Goykovic (tp), Rudi Sehring (dr), Joki Freund (sax), Pepsi Auer (p), Emil Mangelsdorff (sax), Peter Trunk (b) und als Leiter Albert Mangelsdorff (tb)
Albert Mangelsdorff folgte 1958 einer Einladung auf das renommierte Newport Jazz Festival in den USA und vertrat dort Deutschland in einer international besetzten Big Band. Es war das erste Ausrufezeichen, das der Posaunist Albert Mangelsdorff im Mutterland des Jazz setzte. In den folgenden Jahrzehnten avancierte er mit seiner innovativen Spielweise zum weltweit führenden Musiker auf seinem Instrument; 1980 zeichnete ihn der Critics Poll der Jazzzeitschrift Down Beat zum weltbesten Posaunisten aus.
In der wirtschaftlichen Situation der Jazzmusiker spiegelte sich der Jazzboom jener Jahre jedoch nicht wider. Das Jazzpodium titelte 1956: „Am Wirtschaftswunder unbeteiligt: Die Jazzmusiker ein trauriges Kapitel deutscher Sozialpolitik.“ Ihr Einkommen erzielten viele Jazzmusiker schon damals überwiegend mit seichter Schlager- und Unterhaltungsmusik, nur wenige lebten von den Auftritten in Jazzclubs und auf Festivals, die nun überall in Deutschland stattfanden.
Zum Jubiläum des 25-jährigen Bestehens des Jazzkellers gab Mild Maniac 1977 ein Open-Air-Konzert auf dem damals noch unbebauten Römerberg: Volker Kriegel (git), Thomas Bettermann (key), Hans Peter Ströer (b), Evert Fraterman (dr), Nippy Noya (perc)
Halbstarke, Beatniks und Hippies
Ende der 1950er-Jahre ebbte der Jazz-Boom auch schon wieder ab. Mit Rock ’n’ Roll und Beat-Musik standen bei der inzwischen neu herangewachsenen Generation Jugendlicher ganz andere Musikstile in der Gunst ganz oben. „Mit der Flut der Jazzveranstaltungen, die die Jazzmode einst mit sich brachte, ist es vorbei“, schrieb das Jazzpodium 1967.
Der Jazz hatte sich inzwischen vom tanzbaren Swing und gefälligen Cool Jazz zum schwerer verdaulichen Free Jazz weiterentwickelt, und war zu einer Nischenmusik für treue Fans geworden. Und zum Soundtrack der Studentenbewegung, zur Besetzung der Goethe-Universität oder zum Häuserkampf im Frankfurter Westend war die Beat- und Rockmusik mit ihren verzerrten Gitarren avanciert.
Spectrum mit Volker Kriegel (git), Eberhard Weber (b) und Rainer Brüninghaus (key)
„Ich spiele mit meiner Band lieber für ein Publikum, das sich gut unterhalten lassen will, als für eines dieser Jazzkränzchen mit ihrem sektiererischen Gemeindecharakter“, zitierte 1971 Der Spiegel den Jazzgitarristen Volker Kriegel. Zusammen mit seinen Bands Dave Pike Set, Spectrum und Mild Maniac etablierte er von Frankfurt aus seine Fusion aus Jazz und Rock. Und sprach damit wieder breitere Publikumsschichten an. Zusammen mit Albert Mangelsdorff spielte er ab 1977 im United Jazz + Rock Ensemble des Stuttgarter Pianisten Wolfgang Dauner; das im selben Jahr aufgenommene Debütalbum „Live im Schützenhaus“ ist die bis heute erfolgreichste deutsche Jazzschallplatte.
Die Jazzstadt Frankfurt heute
In den 1990ern rückte das reiche Jazz-Erbe der Stadt wieder verstärkt in den Fokus. 1990 gründeten Frankfurter Musiker, unter ihnen Jazz-Ur-Gestein Emil Mangelsdorff, die Jazz-Initiative, die heute mit über 850 Mitgliedern zu den größten Jazzinitiativen Deutschlands zählt und jährlich rund 60 Konzerte organisiert. Und die damalige Kulturdezernentin Linda Reisch rief nicht nur ein Musikreferat für die freie Musikszene, sondern auch das „Arbeitsstipendium Jazz der Stadt Frankfurt“ ins Leben, das jährlich vergeben wird und heute mit 10 000 Euro dotiert ist.
Zum Standortnachteil für Frankfurt entwickelte sich aber der an sich überfällige Trend jener Jahre, Jazz auch in Deutschland zum Gegenstand der Hochschulausbildung zu machen. An vielen Hochschulen und Universitäten überall im gerade wiedervereinigten Deutschland richteten die zuständigen Ministerien Jazz-Studiengänge neu ein – nicht so in Hessen. Inzwischen gibt es zwar auch in Frankfurt wieder Studienangebote, viele junge Nachwuchs-Musiker und Musikerinnen zieht es aber weiter an die größeren Jazz-Hochschulen in Köln, Berlin, Mannheim oder Mainz.
Kaum eine Handvoll professioneller Rundfunk-Bigbands gibt es noch weltweit, und Frankfurt hat eine davon: die Bigband des Hessischen Rundfunks. Seit 2022 kooperiert sie mit der Musikhochschule (HfMDK) beim neuen Studiengang „Bigband – Spielen, Schreiben, Leiten“
Neben den traditionsreichen Institutionen mit internationaler Strahlkraft wie dem Jazzkeller, dem Deutschen Jazzfestival und der HR Bigband zeichnet heute vor allem die agile freie Szene Frankfurt als Jazzstadt aus. Das ehrenamtliche Engagement von Jazz-Initiative, Forum improvisierte Musik, Jazz Montez und anderen Vereinen und Initiativen bildet heute das Rückgrat der Jazzszene in Frankfurt. „Jazzhauptstadt der Republik“ ist Frankfurt gewiss schon lange nicht mehr – aber eine Jazzstadt ist Frankfurt immer geblieben.
Den ersten Teil der Jazz-Story lesen Sie hier.
26. November 2023, 10.48 Uhr
Jonas Lohse
Jonas Lohse
Schon seit über 20 Jahren beim Journal; besonders gerne schreibt er über Themen der Frankfurter Stadtgeschichte, Musik und (Rad-)Verkehr. Mehr von Jonas
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