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Documenta fifteen

„Wenn man Antisemitismus nur als Vorwand begreift, kann man keinen ernsthaften Dialog führen“

Nach monatelangen Antisemitismus-Skandalen der documenta fifteen veranstaltet die Bildungsstätte Anne Frank kurz vor Ende der Schau eine Podiumsdiskussion, die das Geschehen der letzten Monate einordnen soll. Ein Gespräch mit Direktor Meron Mendel.
Am 25. September endet die documenta fifteen in Kassel. Zu sehen gab es vor allem Kunst von Kollektiven und aus Ländern, die bisher selten bis gar nicht in einem solchen Format präsentiert worden sind. Überschattet wurde sie von Antisemitismus-Skandalen, die bis zuletzt kaum ein Forum auf der Weltkunstschau fanden. Wenige Tage, bevor offiziell Schluss ist, veranstaltet die Bildungsstätte Anne Frank eine Podiumsdiskussion, die das Geschehen der letzten Monate in einen breiteren Kontext einordnen soll. Direktor Meron Mendel über gut gemeinte Verschlimmbesserungen, Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft, und warum die Ausstellungsverantwortlichen seiner Ansicht nach autoritär handeln (Anmerkung d. Redaktion: Das Interview wurde bereits am 2. September geführt):

JOURNAL FRANKFURT: Das Kuratorenkollektiv ruangrupa hat gerade verschiedene Interviews gegeben und dabei das Fazit gezogen: Es hat doch Dialog auch im Sinne von Dissens gegeben, viele Beteiligte haben dazugelernt. Ist also im Rückblick alles halb so schlimm? Gab es diese Auseinandersetzung, die von vielen Seiten eingefordert wurde, vielleicht im Kleinen?
Meron Mendel: Man muss genau lesen, welche Art von Dialog oder Dissens gemeint ist. Es ist unstrittig, dass es eine Auseinandersetzung gibt, doch läuft die momentan auf sehr unterschiedlichen Ebenen. Aber ich finde, das ist in jedem Fall keine gute Auseinandersetzung; sehr oft entsteht der Eindruck, dass man aneinander vorbeiredet. „Lösungen“, wo zum Beispiel einfach etwas überklebt wird, damit das Problem unsichtbar gemacht wird – das kann ich persönlich nicht als gute Form der Auseinandersetzung empfinden. Denn auf diese Weise wird keinem der Beteiligten klar, worum es dem anderen überhaupt geht.

Noch ein Beispiel: Die Bebilderung des algerischen, feministischen Kollektivs, das eine Broschüre mit israelischen Soldaten mit Hakennasen und anderen Überzeichnungen zeigt – da hat man eine gute Entscheidung getroffen, das zu kontextualisieren. Die Durchführung war allerdings eher eine Verschlimmbesserung. In dem erklärenden Text wird nichts „erklärt“, sondern im Grunde behauptet: Das Problem liegt nicht in der Zeichnung, die ist 100% in Ordnung, das Problem liegt ausschließlich beim Betrachter. Aber wenn ruangrupa so stark machen, dass sie multiperspektivisch arbeiten, mehrstimmig, auf Augenhöhe: Dann hätte man mindestens noch eine zweite Lesart ermöglichen müssen, die genau erklärt, was an diesen Zeichnungen problematisch ist.

Das ist für mich bezeichnend, leider. Obwohl ruangrupa viel von gegenseitigem Lernen reden und Konzepte formulieren, allen eine Stimme zu geben – am Ende des Tages handeln sie sehr autoritär und setzen ihre Lesart als die einzig legitime durch. Das ist für mich bezeichnend für das große Ganze, wie es abläuft und abgelaufen ist. Denn unstrittig werden Juden und Israel auf dieser documenta in sehr eindimensionaler, einhelliger Weise dargestellt. Es wird kein Platz eingeräumt für andere Perspektiven.

Wenn man dieser Argumentation von ruangrupa nun trotzdem einmal folgen möchte, dann hat die documenta tatsächlich eine Sichtbarwerdung bewirkt – in diesem Fall antisemitische Ressentiments sichtbar gemacht –, und zwar nicht nur an den Rändern, nicht nur in postkolonialen Diskursen, sondern auch im ganz gewöhnlichen Bildungsbürgertum. Sie waren als Bildungsstätte Anne Frank selbst mit einem Team vor Ort, um mit den Besucherinnen und Besuchern über antisemitische Vorurteile zu sprechen.
Das war für uns sehr aufschlussreich zu sehen, wie unterschiedlich die Wahrnehmungen sind – was von Zeitungen problematisiert wurde, ist bei dem Großteil der Besucherinnen und Besucher der documenta als Störung wahrgenommen worden: „Da versucht jemand, unsere Kunstausstellung kaputt zu machen!“ Irritationen herrschten auch darüber, dass nach Meinung vieler ausschließlich die antisemitischen Bilder im Fokus standen. Diesen Standpunkt, dass es sehr viel auf der documenta gibt, das mehr Aufmerksamkeit verdient hätte, kann ich nachvollziehen. Dass es für Künstler, die nichts damit zu tun haben – und das ist sicher die große Mehrheit auf der documenta – sehr frustrierend ist. Problematisch aber wird, wenn dieser Unmut mit gewissen antisemitischen Vorstellungen verknüpft wird. Und diese Vorstellungen sind auch bei einem Teil der Besucher vorhanden. Dann wird geraunt über die Macht der Juden, die die documenta kaputt machen wollen, die sie Kassel wegnehmen wollten, oder uns wurden sogar Verschwörungstheorien erzählt– dass es nur ein Ablenkungsmanöver sei von israelischen Militäraktionen. Solche Vorstellungen machen klar, dass Antisemitismus ein gravierendes Problem ist.

Das eine zu besprechen, ohne das andere auszublenden, scheint generell ein aufmerksamkeitsökonomisches Problem. Sie haben es gerade schon angesprochen: Themen und Kollektive auf der documenta, aus Haiti, Kuba oder Bangladesch beispielsweise, die ganz eigene Anliegen und Sichtweisen vorgebracht haben, hätten mehr Aufmerksamkeit verdient. Wäre ein offenes (Streit-) Gespräch von Anfang an dann nicht besser für alle Seiten gewesen?
Die Frage wäre natürlich: Wann wäre der richtige Zeitpunkt gewesen, diese Dinge zu besprechen? Hier gab es Abwehrreflexe aus unterschiedlicher Richtung. Vor der documenta war es wohl offenbar nicht möglich. Aber umso schwieriger war es nach der Eröffnung. Ruangrupa sagt: Wenn es nicht Antisemitismus gewesen wäre, dann hätte man ein anderes Thema gefunden, uns zu kritisieren – ihrer Ansicht nach speist sich die Kritik aus Rassismus, weil sie aus Indonesien kommen. Da sieht man, wie weit entfernt man von der Bereitschaft ist, sich wirklich mit einem Problem auseinanderzusetzen. Wenn man Antisemitismus von Anfang an nur als Vorwand begreift, dann kann man keinen ernsthaften Dialog führen. Die Problematik von Antisemitismus ist bis heute bei Teilen von ruangrupa nicht klar, denke ich.

Tatsächlich haben ruangrupa an verschiedener Stelle eingeräumt, dass sie selbst das Problem unterschätzt hatten. Eine Frage, die aber gar nicht trivial ist: Wie kann man denn Bewusstsein für etwas schaffen, für das ein anderer womöglich – aus biografischen oder anderen Gründen- tatsächlich erst einmal blind ist?
Das Versagen liegt hier an allererster Stelle bei denjenigen, die ruangrupa hier in die documenta einbetten sollten. Das fing damit an, dass die Findungskommission eigentlich die Aufgabe hat, die Kuratoren zu begleiten. Das ist auch vertraglich ihre Pflicht. Offensichtlich ist das nicht gut gemacht worden. Wenn man Leute der Findungskommission hört, dann hat man den Eindruck, dass das Problem schon dort beginnt – die Problematik des Antisemitismus wird kleingeredet und bagatellisiert. Dann war natürlich auch die documenta-Leitung in der Pflicht. Beispielsweise durch das Artistic Team, das ruangrupa informieren sollte, über den Kontext hier vorbereiten. Insofern würde ich die Schuld nicht in erster Linie bei ruangrupa sehen, sondern auch bei den vielen Akteuren, die für die documenta zuständig sind. Gerade, wenn die Kuratoren aus komplett anderen Kontexten kommen – wie Sie sagen, ihre eigenen blinden Flecken mitbringen. Dann ist es die Aufgabe der Organisation, das zu kompensieren, da zu vermitteln und zu sensibilisieren.

Nun haben Sie in der Bildungsstätte Anne Frank den Gesprächsfaden aufgenommen und dabei auch die Künstlerin Hito Steyerl eingeladen, die Ihnen kurz nach Niederlegung Ihrer Beratertätigkeit für die Weltkunstschau gefolgt ist und ihre Videoarbeit von der documenta abgezogen hat. Worum wird es am 22. September gehen?
Wir haben schon eine Woche nach der Eröffnung einen Abend in Kassel organisiert, wo das Thema Antisemitismus, Postkolonialismus und Kunstbetrieb auf einer politischen Ebene diskutiert werden sollte. Der Zentralrat der Juden war dabei, ebenso die Leitung der Kulturstiftung des Bundes – hier ging es eher um formelle und politische Aspekte. In dieser zweiten Runde wollen wir stärker auf Inhalte zu sprechen kommen. Auch aus künstlerischer Perspektive: Über die Grenzen von Kunstfreiheit, zum Beispiel. Ich freue mich sehr, dass wir unter anderem den Vorsitzenden der Palästinensischen Gemeinde in Hessen dabeihaben – auch dieser Perspektive wollen wir Raum geben. Um dem Anspruch gerecht zu werden, unterschiedliche Stimmen zusammenzubringen. Das hat leider bis heute andernorts nicht funktioniert. Übrigens findet diese Veranstaltung in einem größeren Rahmen statt: in einer internationalen Konferenz, in der es um inklusive Erinnerungskultur geht. Wir haben Wissenschaftler aus Afrika, USA, Israel, Polen und Deutschland eingeladen, um uns mit der Frage zu beschäftigen, wie man verschiedene historische Ereignisse zusammendenken kann, und wie sich Postkolonialismus und Antisemitismus zueinander verhalten.

Haben Sie ruangrupa oder einige lumbung-Künstler eingeladen?
Ruangrupa hatten wir schon zur ersten Veranstaltung eingeladen, sie wollten nicht auf das Podium, haben aber am Anfang ein Statement vorgelesen. Auf Grund der Absage haben wir sie nicht nochmal explizit eingeladen, denn sie fühlen sich in diesem Format laut ihrer eigenen Aussage nicht aufgehoben. Für diese Veranstaltungen haben wir zum Beispiel das palästinensische Kollektiv The Question of Funding eingeladen, und andere Kunstschaffende – zugesagt hat bis jetzt aber nur Hito Steyerl.

>> Kunst & Kontext – von der Mbembe-Debatte bis zur documenta fifteen: Der Kunst- und Kulturbetrieb zwischen Antisemitismuskritik und Postkolonialismus, mit Hito Steyerl, Nele Pollatschek, Jehad Ahmad, Julia Yael Alfandari, Bildungsstätte Anne Frank, 22. September, 20 Uhr, Eintritt frei. Teilnahme vor Ort (begrenzte Plätze) oder via Livestream über bs-anne-frank.de
 
Fotogalerie:
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19. September 2022, 12.57 Uhr
kjc
 
 
 
 
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