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Debatte um Städtische Bühnen
„Schauspiel wird nach der Kulturmeilen-Planung als großer Verlierer dastehen“
Die Diskussion um die Zukunft der Städtischen Bühnen schlägt hohe Wellen. Dabei geht es vor allem um städteplanerische Belange. Theaterwissenschaftler Nikolaus Müller-Schöll wirft im Gespräch mit dem JOURNAL einen besonderen Blick auf die ästhetische Dimension des Problems.
Journal: Herr Müller-Schöll, momentan nimmt die Diskussion um die Städtischen Bühnen wieder Fahrt auf, seitdem der Magistrat eine Entscheidungsgrundlage für die Variante Kulturmeile vorgelegt hat. Bisher wurde das Ganze sehr aus der städtebaulichen Perspektive behandelt. Was fehlt Ihrer Meinung nach bei der Diskussion?
Müller-Schöll: Als Theaterwissenschaftler muss ich anders als die Kulturpolitiker und die Architekten nicht Probleme lösen, sondern sie zunächst einmal herausarbeiten und analysieren. Und mich interessiert dabei natürlich vor allem das Ästhetische, mit dem das Politische eng verknüpft ist. Dabei fallen mir einige Aspekte auf, die in der bisherigen Diskussion zu kurz gekommen sind. Mir fehlt eine Klärung, die eigentlich jeglicher Bauplanung hätte vorausgehen müssen: Für welches zukünftige Theater und welche zukünftige Stadt will man denn eigentlich heute ein neues Haus bauen – oder zwei? Es gilt dabei, die Diskussion vom Kopf auf die Füße zu stellen: Ein heutiger Theaterneubau sollte nicht Top Down, sondern Bottom Up geplant werden.
Für viele heutige Künstler:innen sind die großen Bühnen nicht länger attraktiv. Sie denken Theater anders als in der traditionellen Vorstellung, die deren Bauweise zugrunde liegt. Auch sollte man, wenn man die großen Versprechungen des 18. Jahrhunderts ernst nimmt, wonach das Theater ein Ort der Selbstverständigung der Stadtgesellschaft ist, zur Kenntnis nehmen, dass die Frankfurter Stadtgesellschaft viel heterogener und diverser ist, als es Ensemble und Publikum der städtischen Bühnen heute sind. Andere Kunst- und Kulturformen verdienen größere Anerkennung, damit auch Leute, die jünger sind und einen anderen Hintergrund haben als ich, diese Häuser als die ihren begreifen können.
„Ein heutiger Theaterneubau sollte nicht Top Down, sondern Bottom Up geplant werden“
Gibt es Orte, wo das schon stattfindet?
Es gibt Beispiele, wo das schon funktioniert und wo man deshalb auch die fälligen Umbauten komplexer angeht, zum Beispiel die Hamburger „Kampnagel Kulturfabrik“, die vor einigen Jahren zum Stadttheater wurde. Dort finden große repräsentative Opern-, Theater- und Tanzveranstaltungen neben Club-Events, kleinen Performances, Installationen, Konzerten, Stadtprojekten, Cross Over-Formaten und vielem anderen mehr unter einem Dach statt. Geflohene bespielen einen eigenen Ort. Das experimentelle choreographische Zentrum K3 geht künstlerischer Forschung nach.
Aber es kann einem auch passieren, dass man, von da kommend auf die lange Schlange stößt, die gerade ansteht, um ein Autogramm von Richard David Precht zu bekommen. Kurz: Es begegnen sich Leute an einem Ort jenseits des Kommerzes, die anderswo nie aufeinandertreffen. Unterschiedliche Kulturen, darunter viele, die speziell solche Gruppen im Blick haben, die besonders von Diskriminierung bedroht sind, finden hier ihren gemeinsamen ‚dritten Ort‘.
Hamburg als Vorbild also?
In einem längeren Aufsatz vertrete ich die These, dass man darin den „Erlkönig“ des Stadttheaters der Zukunft zu sehen hat. Als „Erlkönig“ bezeichnet die Auto-Industrie bekanntlich frei nach Goethe die Modelle zukünftiger Serienwagen. In Hamburg wird derzeit in Zusammenarbeit zwischen den dort Arbeitenden und den beauftragten Architekten die Sanierung und Erweiterung des Gebäude-Ensembles geplant. Davon verspreche ich mir sehr viel. Das könnte auch ein Modell für Frankfurt sein.
Aber man muss auch ganz andere Orte mit im Blick haben, die heute etwas von dem verwirklichen, was der Idee eines Stadttheaters zugrunde lag: Alexander Kluge hat einmal angeregt, dass man unter den Opern auch noch die Stadtbibliothek bauen sollte. Das ist der Gegenentwurf zur Hamburger Elbphilharmonie, wo das neue Wahrzeichen der Hansestadt auf einem Luxushotel thront, in einem Viertel, das, für eine sozialdemokratisch geprägte Stadt ganz untypisch, den Wohlhabenden vorbehalten ist.
Ein Ort jenseits des Kommerzes
Sie unterstützen die Initiative Zukunft Städtische Bühnen Frankfurt, die sich für einen Erhalt der Doppelanlage ausspricht. Warum ist der Gebäudekomplex am Willy-Brandt-Platz erhaltenswert?
Zunächst einmal ist das ein Haus, das wie wenige Theater in Deutschland und wenige Gebäude in Frankfurt durch die Geschichte des 20. und 21. Jahrhundert baulich geprägt ist. Sie manifestiert sich in seinen Schichtungen: Die unterschiedlichen Deckenhöhen, nutzlosen Nischen, verwinkelten Gänge und Nahtstellen der verschiedenen Bauabschnitte können als Stolpersteine begriffen werden, die uns das 20. Jahrhundert mit seinen fünf deutschen Staaten, den Katastrophen der zwei Weltkriege und der Shoah nicht vergessen lassen.
Zugleich ist das Foyer mit der Wolkenskulptur von Zoltan Kemeny, dem Chagallsaal mit dem „Commedia dell’arte“-Gemälde und der Glasarchitektur, die Offenheit zur Stadt signalisiert und symbolisiert, aber zugleich auch dem Publikum und Ensemble beständig die Stadt ins Gedächtnis ruft, zurecht denkmalgeschützt.
Glasarchitektur als Fenster zur Stadt
Und warum noch?
Es stellt eine der wenigen überzeugenden Antworten der Nachkriegstheaterarchitektur auf die Frage dar, wie eine Theaterfassade sich von den feudalen Gestaltungsmustern des Theaterbaus des 19. Jahrhunderts lösen und demokratische Muster an deren Stelle setzen kann. Statt ein weiteres Mal Schloss und Tempel zu zitieren, hat hier im Stil des Bauhauses das Prinzip Öffentlichkeit eine architektonische Form gefunden.
Und dann ist dieses Gebäude natürlich mit großen Momenten der Nachkriegstheatergeschichte verbunden: Dem Mitbestimmungsmodell der 1970er-Jahre, an das sich heute das Ensemble-Netzwerk, die Initiativen Art but fair und die Me-Too-Bewegung sehnsüchtig erinnern; der Experimenta, die im Jahr der (Wieder-)Vereinigung Heiner Müller gewidmet war, mit Inszenierungen aus DDR und BRD; den grandiosen Arbeiten Einar Schleefs, die auf den Grundriss des Hauses bezogen waren.
Und das sind jetzt nur ein paar Momente, die mir zu dem Gebäude einfallen. Es ist ein sehr zentraler Ort in der Stadt, Teil ihrer DNA. Das Gebäude drückt eine angenehme Zurückhaltung aus, enthält sich aller repräsentativen Protzerei. Es steht exemplarisch für Frankfurt am Main als die intellektuelle Hauptstadt der alten Bundesrepublik, als ein kritischer, die Zukunft des Theaters wie der Gesellschaft verhandelnder Gegenpol zu Bonn, Berlin und München.
Große Momente der Nachkriegstheatergeschichte
Wenn der Entscheidungsprozess um die Zukunft der Städtischen Bühnen mehr in der Breite diskutiert werden würde, wie könnte so ein Prozess aussehen, wer müsste daran teilnehmen? Wäre nach ausreichender Prüfung gar ein Bürgerentscheid denkbar?
Ich bin ein großer Anhänger der repräsentativen Demokratie, zumindest da, wo es um derart komplexe Fragen geht wie hier. Aber sie funktioniert nur, wenn die Mandatsträger ihre Rolle ernst nehmen. Wichtig scheint mir, dass diejenigen, die entscheiden, sich umfassend informieren und sich nicht durch die verschiedenen, in einer solchen Debatte hervortretenden Lobbyisten beeindrucken lassen.
Es war sicher ein zurecht von der Initiative kritisierter großer Fehler, dass die Entscheidung für Abriss und Neubau Anfang des Jahres 2020 überstürzt getroffen wurde, vor der ausgedehnten Lektüre einer damals noch nicht in allen Teilen zugänglich gemachten wichtigen weiteren Studie, die eine differenziertere Diskussion ermöglicht hätte.
Dagegen ist nicht zu kritisieren, dass die Diskussion so lange gedauert hat und noch andauert, denn das zeigt, dass unser Gemeinwesen trotz aller Versuche, die Öffentlichkeit zu manipulieren und mit halbgaren Argumenten für eine bestimmte Lösung zu gewinnen, funktioniert. Eine solche Jahrhundert-Bauentscheidung braucht und verdient Zeit. Ich fände es wichtig, dass die Stadt in ihrer ganzen Diversität einbezogen wird in die Überlegungen, welche Art von Zentrum heute in der Weise zur Aushandlungsstätte der gesellschaftlich wichtigen Fragen taugt, wie das, zumindest den Gründungsschriften zufolge, im 18. Jahrhundert für die Theater der Fall war.
Letztlich müsste aus meiner Sicht aber den Ausschlag geben, was diejenigen als Bedarf anmelden, die im Zentrum der Theater stehen: die Künstler:innen. Und hier vor allem solche, die nicht schon alle durch den Betrieb und seine Apparate eingeforderten Kompromisse akzeptiert haben, sondern sich erlauben, darüber hinaus zu denken. Ich lerne viel über das Theater der Zukunft durch die Gespräche, die ich regelmäßig mit angehenden Regisseur:innen, Schauspieler:innen und Dramaturg:innen habe.
„Eine solche Jahrhundert-Bauentscheidung braucht und verdient Zeit“
Apropos die Kunstschaffenden: Der Betriebsrat der Städtischen Bühnen hält eine Sanierung mit Teilneubau für ungeeignet und verweist auf schwierige Arbeitsbedingungen der Beschäftigten. Können Sie dazu etwas sagen?
Das ist sehr ernst zu nehmen. Die Arbeitsbedingungen sind, nach allem, was ich auch immer wieder höre, für viele Beschäftigte unerträglich. Ich bin aber nicht sicher, ob der Betriebsrat recht hat, wenn er daraus den Schluss zieht, dass die jetzt vorgeschlagene Kulturmeile Abhilfe schafft. Zunächst einmal würde dieser Beschluss die Arbeitsbedingungen mittelfristig noch deutlich verschlechtern.
Denn die neuen Gebäude würden kaum vor Ende der 2030er-Jahre bezogen. Alle über 50 werden sie vermutlich nicht mehr in Funktion erleben. Bis dahin wird speziell das Schauspiel durch eine sehr harte Zeit des Improvisierens in Interims gehen, die nicht mehr, sondern weniger komfortabel sein dürften als die jetzige Situation.
Was gäbe es an der jetzigen Variante Kulturmeile denn noch auszusetzen?
Das Schauspiel wird nach der Kulturmeilen-Planung am Ende als der großer Verlierer dastehen, denn das neue Haus, in das es dann ziehen wird, liegt an einer zugigen Straße auf der einen, an einer nicht sehr gut als Platz der Versammlung geeigneten Grünanlage auf der anderen Seite. Es ist schlechter verkehrsangebunden und wird buchstäblich im Schatten der Bankentürme liegen und die Trennung der zwei Häuser beseitigt Synergie-Effekte.
In jedem Fall sehe ich hier großen Handlungsbedarf, schon jetzt: Die Stadt sollte umgehend für neue Räume sorgen, mit denen schon jetzt einige der dringlichsten Probleme der Beschäftigten gelöst werden könnten. Vielleicht könnte das jetzt neu diskutierte Areal der Dondorf-Druckerei dafür ein Ort sein oder die Kramer-Bauten im alten botanischen Garten. Oder man verständigt sich mit dem Land darüber, dass ein Interims-Bau des Schauspiels auf dem Kulturcampus als zukünftige Behausung des LAB errichtet wird.
Dondorf-Areal für Interim denkbar
Sie stehen als Theaterwissenschaftler auch mit anderen Experten sowie Theater- und Bühnenschaffenden in Kontakt. Was hören Sie aus deren Kreisen zu der Situation der Städtischen Bühnen? Und gibt es ähnliches auch in anderen Städten?
Die ganze in ihrer Art einzigartige Theaterlandschaft der deutschsprachigen Länder schaut auf die Frankfurter Debatte. Denn überall, wo zwischen Mitte der 1950er- und Anfang der 1970er-Jahre Theater neu gebaut oder umgebaut worden sind, wird früher oder später in den kommenden Jahren eine ähnliche Debatte geführt werden müssen.
Und was könnte die Debatte in Frankfurt leisten?
Ich würde mir wünschen, dass Frankfurt neuerlich etwas gelingt, was ihm einst unter dem nun legendär gewordenen Kulturdezernenten Hilmar Hoffmann gelang: Dass es zum viel studierten Vorbild für eine ebenso demokratische wie mutige Kulturpolitik wird, die unter dem Vorzeichen der „Kultur für alle“ unausgesprochen auch berücksichtigt, dass Kunst, wenn sie gut ist, letztlich zunächst einmal für niemanden gemacht wird.
Das wird nur der Fall sein, wenn wir uns alle noch ein wenig gedulden, bis die ökologischen, ökonomischen, städtebaulichen, architektonischen und – aus meiner Sicht vor allem – ästhetischen und politischen Fragen hinreichend diskutiert worden sind, um eine gute Lösung für diese zentrale Bau-Aufgabe zu finden.
Info
ZUR PERSON: Nikolaus Müller-Schöll ist seit 2011 Professor für Theaterwissenschaft an der Goethe Universität Frankfurt. Von 2018 bis 2022 war er Präsident der Gesellschaft für Theaterwissenschaft.
© Goethe Universität
Müller-Schöll: Als Theaterwissenschaftler muss ich anders als die Kulturpolitiker und die Architekten nicht Probleme lösen, sondern sie zunächst einmal herausarbeiten und analysieren. Und mich interessiert dabei natürlich vor allem das Ästhetische, mit dem das Politische eng verknüpft ist. Dabei fallen mir einige Aspekte auf, die in der bisherigen Diskussion zu kurz gekommen sind. Mir fehlt eine Klärung, die eigentlich jeglicher Bauplanung hätte vorausgehen müssen: Für welches zukünftige Theater und welche zukünftige Stadt will man denn eigentlich heute ein neues Haus bauen – oder zwei? Es gilt dabei, die Diskussion vom Kopf auf die Füße zu stellen: Ein heutiger Theaterneubau sollte nicht Top Down, sondern Bottom Up geplant werden.
Für viele heutige Künstler:innen sind die großen Bühnen nicht länger attraktiv. Sie denken Theater anders als in der traditionellen Vorstellung, die deren Bauweise zugrunde liegt. Auch sollte man, wenn man die großen Versprechungen des 18. Jahrhunderts ernst nimmt, wonach das Theater ein Ort der Selbstverständigung der Stadtgesellschaft ist, zur Kenntnis nehmen, dass die Frankfurter Stadtgesellschaft viel heterogener und diverser ist, als es Ensemble und Publikum der städtischen Bühnen heute sind. Andere Kunst- und Kulturformen verdienen größere Anerkennung, damit auch Leute, die jünger sind und einen anderen Hintergrund haben als ich, diese Häuser als die ihren begreifen können.
Gibt es Orte, wo das schon stattfindet?
Es gibt Beispiele, wo das schon funktioniert und wo man deshalb auch die fälligen Umbauten komplexer angeht, zum Beispiel die Hamburger „Kampnagel Kulturfabrik“, die vor einigen Jahren zum Stadttheater wurde. Dort finden große repräsentative Opern-, Theater- und Tanzveranstaltungen neben Club-Events, kleinen Performances, Installationen, Konzerten, Stadtprojekten, Cross Over-Formaten und vielem anderen mehr unter einem Dach statt. Geflohene bespielen einen eigenen Ort. Das experimentelle choreographische Zentrum K3 geht künstlerischer Forschung nach.
Aber es kann einem auch passieren, dass man, von da kommend auf die lange Schlange stößt, die gerade ansteht, um ein Autogramm von Richard David Precht zu bekommen. Kurz: Es begegnen sich Leute an einem Ort jenseits des Kommerzes, die anderswo nie aufeinandertreffen. Unterschiedliche Kulturen, darunter viele, die speziell solche Gruppen im Blick haben, die besonders von Diskriminierung bedroht sind, finden hier ihren gemeinsamen ‚dritten Ort‘.
Hamburg als Vorbild also?
In einem längeren Aufsatz vertrete ich die These, dass man darin den „Erlkönig“ des Stadttheaters der Zukunft zu sehen hat. Als „Erlkönig“ bezeichnet die Auto-Industrie bekanntlich frei nach Goethe die Modelle zukünftiger Serienwagen. In Hamburg wird derzeit in Zusammenarbeit zwischen den dort Arbeitenden und den beauftragten Architekten die Sanierung und Erweiterung des Gebäude-Ensembles geplant. Davon verspreche ich mir sehr viel. Das könnte auch ein Modell für Frankfurt sein.
Aber man muss auch ganz andere Orte mit im Blick haben, die heute etwas von dem verwirklichen, was der Idee eines Stadttheaters zugrunde lag: Alexander Kluge hat einmal angeregt, dass man unter den Opern auch noch die Stadtbibliothek bauen sollte. Das ist der Gegenentwurf zur Hamburger Elbphilharmonie, wo das neue Wahrzeichen der Hansestadt auf einem Luxushotel thront, in einem Viertel, das, für eine sozialdemokratisch geprägte Stadt ganz untypisch, den Wohlhabenden vorbehalten ist.
Sie unterstützen die Initiative Zukunft Städtische Bühnen Frankfurt, die sich für einen Erhalt der Doppelanlage ausspricht. Warum ist der Gebäudekomplex am Willy-Brandt-Platz erhaltenswert?
Zunächst einmal ist das ein Haus, das wie wenige Theater in Deutschland und wenige Gebäude in Frankfurt durch die Geschichte des 20. und 21. Jahrhundert baulich geprägt ist. Sie manifestiert sich in seinen Schichtungen: Die unterschiedlichen Deckenhöhen, nutzlosen Nischen, verwinkelten Gänge und Nahtstellen der verschiedenen Bauabschnitte können als Stolpersteine begriffen werden, die uns das 20. Jahrhundert mit seinen fünf deutschen Staaten, den Katastrophen der zwei Weltkriege und der Shoah nicht vergessen lassen.
Zugleich ist das Foyer mit der Wolkenskulptur von Zoltan Kemeny, dem Chagallsaal mit dem „Commedia dell’arte“-Gemälde und der Glasarchitektur, die Offenheit zur Stadt signalisiert und symbolisiert, aber zugleich auch dem Publikum und Ensemble beständig die Stadt ins Gedächtnis ruft, zurecht denkmalgeschützt.
Und warum noch?
Es stellt eine der wenigen überzeugenden Antworten der Nachkriegstheaterarchitektur auf die Frage dar, wie eine Theaterfassade sich von den feudalen Gestaltungsmustern des Theaterbaus des 19. Jahrhunderts lösen und demokratische Muster an deren Stelle setzen kann. Statt ein weiteres Mal Schloss und Tempel zu zitieren, hat hier im Stil des Bauhauses das Prinzip Öffentlichkeit eine architektonische Form gefunden.
Und dann ist dieses Gebäude natürlich mit großen Momenten der Nachkriegstheatergeschichte verbunden: Dem Mitbestimmungsmodell der 1970er-Jahre, an das sich heute das Ensemble-Netzwerk, die Initiativen Art but fair und die Me-Too-Bewegung sehnsüchtig erinnern; der Experimenta, die im Jahr der (Wieder-)Vereinigung Heiner Müller gewidmet war, mit Inszenierungen aus DDR und BRD; den grandiosen Arbeiten Einar Schleefs, die auf den Grundriss des Hauses bezogen waren.
Und das sind jetzt nur ein paar Momente, die mir zu dem Gebäude einfallen. Es ist ein sehr zentraler Ort in der Stadt, Teil ihrer DNA. Das Gebäude drückt eine angenehme Zurückhaltung aus, enthält sich aller repräsentativen Protzerei. Es steht exemplarisch für Frankfurt am Main als die intellektuelle Hauptstadt der alten Bundesrepublik, als ein kritischer, die Zukunft des Theaters wie der Gesellschaft verhandelnder Gegenpol zu Bonn, Berlin und München.
Wenn der Entscheidungsprozess um die Zukunft der Städtischen Bühnen mehr in der Breite diskutiert werden würde, wie könnte so ein Prozess aussehen, wer müsste daran teilnehmen? Wäre nach ausreichender Prüfung gar ein Bürgerentscheid denkbar?
Ich bin ein großer Anhänger der repräsentativen Demokratie, zumindest da, wo es um derart komplexe Fragen geht wie hier. Aber sie funktioniert nur, wenn die Mandatsträger ihre Rolle ernst nehmen. Wichtig scheint mir, dass diejenigen, die entscheiden, sich umfassend informieren und sich nicht durch die verschiedenen, in einer solchen Debatte hervortretenden Lobbyisten beeindrucken lassen.
Es war sicher ein zurecht von der Initiative kritisierter großer Fehler, dass die Entscheidung für Abriss und Neubau Anfang des Jahres 2020 überstürzt getroffen wurde, vor der ausgedehnten Lektüre einer damals noch nicht in allen Teilen zugänglich gemachten wichtigen weiteren Studie, die eine differenziertere Diskussion ermöglicht hätte.
Dagegen ist nicht zu kritisieren, dass die Diskussion so lange gedauert hat und noch andauert, denn das zeigt, dass unser Gemeinwesen trotz aller Versuche, die Öffentlichkeit zu manipulieren und mit halbgaren Argumenten für eine bestimmte Lösung zu gewinnen, funktioniert. Eine solche Jahrhundert-Bauentscheidung braucht und verdient Zeit. Ich fände es wichtig, dass die Stadt in ihrer ganzen Diversität einbezogen wird in die Überlegungen, welche Art von Zentrum heute in der Weise zur Aushandlungsstätte der gesellschaftlich wichtigen Fragen taugt, wie das, zumindest den Gründungsschriften zufolge, im 18. Jahrhundert für die Theater der Fall war.
Letztlich müsste aus meiner Sicht aber den Ausschlag geben, was diejenigen als Bedarf anmelden, die im Zentrum der Theater stehen: die Künstler:innen. Und hier vor allem solche, die nicht schon alle durch den Betrieb und seine Apparate eingeforderten Kompromisse akzeptiert haben, sondern sich erlauben, darüber hinaus zu denken. Ich lerne viel über das Theater der Zukunft durch die Gespräche, die ich regelmäßig mit angehenden Regisseur:innen, Schauspieler:innen und Dramaturg:innen habe.
Apropos die Kunstschaffenden: Der Betriebsrat der Städtischen Bühnen hält eine Sanierung mit Teilneubau für ungeeignet und verweist auf schwierige Arbeitsbedingungen der Beschäftigten. Können Sie dazu etwas sagen?
Das ist sehr ernst zu nehmen. Die Arbeitsbedingungen sind, nach allem, was ich auch immer wieder höre, für viele Beschäftigte unerträglich. Ich bin aber nicht sicher, ob der Betriebsrat recht hat, wenn er daraus den Schluss zieht, dass die jetzt vorgeschlagene Kulturmeile Abhilfe schafft. Zunächst einmal würde dieser Beschluss die Arbeitsbedingungen mittelfristig noch deutlich verschlechtern.
Denn die neuen Gebäude würden kaum vor Ende der 2030er-Jahre bezogen. Alle über 50 werden sie vermutlich nicht mehr in Funktion erleben. Bis dahin wird speziell das Schauspiel durch eine sehr harte Zeit des Improvisierens in Interims gehen, die nicht mehr, sondern weniger komfortabel sein dürften als die jetzige Situation.
Was gäbe es an der jetzigen Variante Kulturmeile denn noch auszusetzen?
Das Schauspiel wird nach der Kulturmeilen-Planung am Ende als der großer Verlierer dastehen, denn das neue Haus, in das es dann ziehen wird, liegt an einer zugigen Straße auf der einen, an einer nicht sehr gut als Platz der Versammlung geeigneten Grünanlage auf der anderen Seite. Es ist schlechter verkehrsangebunden und wird buchstäblich im Schatten der Bankentürme liegen und die Trennung der zwei Häuser beseitigt Synergie-Effekte.
In jedem Fall sehe ich hier großen Handlungsbedarf, schon jetzt: Die Stadt sollte umgehend für neue Räume sorgen, mit denen schon jetzt einige der dringlichsten Probleme der Beschäftigten gelöst werden könnten. Vielleicht könnte das jetzt neu diskutierte Areal der Dondorf-Druckerei dafür ein Ort sein oder die Kramer-Bauten im alten botanischen Garten. Oder man verständigt sich mit dem Land darüber, dass ein Interims-Bau des Schauspiels auf dem Kulturcampus als zukünftige Behausung des LAB errichtet wird.
Sie stehen als Theaterwissenschaftler auch mit anderen Experten sowie Theater- und Bühnenschaffenden in Kontakt. Was hören Sie aus deren Kreisen zu der Situation der Städtischen Bühnen? Und gibt es ähnliches auch in anderen Städten?
Die ganze in ihrer Art einzigartige Theaterlandschaft der deutschsprachigen Länder schaut auf die Frankfurter Debatte. Denn überall, wo zwischen Mitte der 1950er- und Anfang der 1970er-Jahre Theater neu gebaut oder umgebaut worden sind, wird früher oder später in den kommenden Jahren eine ähnliche Debatte geführt werden müssen.
Und was könnte die Debatte in Frankfurt leisten?
Ich würde mir wünschen, dass Frankfurt neuerlich etwas gelingt, was ihm einst unter dem nun legendär gewordenen Kulturdezernenten Hilmar Hoffmann gelang: Dass es zum viel studierten Vorbild für eine ebenso demokratische wie mutige Kulturpolitik wird, die unter dem Vorzeichen der „Kultur für alle“ unausgesprochen auch berücksichtigt, dass Kunst, wenn sie gut ist, letztlich zunächst einmal für niemanden gemacht wird.
Das wird nur der Fall sein, wenn wir uns alle noch ein wenig gedulden, bis die ökologischen, ökonomischen, städtebaulichen, architektonischen und – aus meiner Sicht vor allem – ästhetischen und politischen Fragen hinreichend diskutiert worden sind, um eine gute Lösung für diese zentrale Bau-Aufgabe zu finden.
ZUR PERSON: Nikolaus Müller-Schöll ist seit 2011 Professor für Theaterwissenschaft an der Goethe Universität Frankfurt. Von 2018 bis 2022 war er Präsident der Gesellschaft für Theaterwissenschaft.
© Goethe Universität
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Jahrgang 1994, Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Goethe Universität Frankfurt, seit November 2022 beim JOURNAL FRANKFURT. Mehr von Till
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22. November 2024
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