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CD-Release-Konzert von Lucid

Freiheit unbedingt, Abenteuer in Maßen

Trotz Umzug nach Berlin, das neue Album „Scripted Reality“ wird am 13. Oktober in Frankfurt vorgestellt. Denn zur Brotfabrik hat Lucid einen guten Draht und ihre Musiker leben noch immer am Main, nicht an der Spree.
JOURNAL FRANKFURT: Im Info heißt es sinngemäß, dank des weitgehenden Verzichts auf elektrische Instrumente hat sich die Musik weiter von Pop und Rock entfernt. Wohin ging die Reise, hast Du eine Definition für die Musik von Lucid 2016? Oder bist Du ähnlich wie eine Klassikerin wie Joni Mitchell da gar nicht mehr festzulegen?

Lucid: Die Einordnung meiner eigenen Musik finde ich schon immer schwierig. Ich habe viel zu wenig Abstand davon, um eine objektive Aussage darüber zu treffen. Es ist auch nicht so, dass ich planen würde: „Jetzt schreibe ich mal einen Jazz -Song oder einen richtigen Folktitel.“ Oder „Jetzt gehe ich mal in Richtung Weltmusik“. Songschreiben hat für mich viel Intuitives, und die Songs entwickeln sich langsam beim wiederholten Spielen, mit Band, ohne Band, mit kleinen Test-Arrangements am Computer, beim Texten und immer wieder Verbessern. Ein Song ist fertig, wenn er für mich stimmig ist – und dann ist es, was es ist (sagt ja schon Erich Fried, und Liebe und Musik sind ganz, ganz nahe Verwandte). An einem Song wie „Icarus“ habe ich jahrelang gearbeitet. Selbst die letzten Live-Versionen waren noch sehr anders als das, was jetzt aufs Album kommt. Aber immer wenn ich diese Form aufgenommen hatte, war ich nicht zufrieden. Der Song ist buchstäblich in der letzten Minute vor dem Mastering fertig geworden.
Am ehesten würde ich diese Musik als Kammer-Pop bezeichnen – wenn man davon ausgeht, dass das im Wesentlichen bedeutet, dass die Instrumente alle auf Zimmerlautstärke gespielt werden (können). Wir brauchen kaum Verstärkung (für die einzelnen Instrumente) und sind selbst als Band bzw. mit dem großen Ensemble noch Wohnzimmer-Konzert-tauglich. Es gibt auch keine Drums im üblichen Sinne, mal eine Besen-Snare, mal gesampelte und gefilterte Drums (die ich live aber eher vom Laptop abspielen würde), aber die meisten Arrangements leben von der filigranen und eigenwilligen Percussion. Die Kompositionen sind im Prinzip Popsongs, allerdings in einer weiterentwickelten Form. Die Arrangements bedienen absichtlich nicht, was für Popmusik das Naheliegende wäre, wir versuchen da eher etwas zu machen, was ein bisschen Zeit zur Verarbeitung braucht.

Wie wichtig waren in den letzten die Inputs Deiner Musiker, die z.B. in den Bereichen Klassik, Jazz, World Music Erfahrungen gesammelt haben und die, so scheint es, auf die selbstverständlichste Weise Eingang gefunden haben in Deine Kompositionen. Am Reißbrett kann man so was nicht entwerfen ...


Die Probenarbeit mit Tim Roth (Bass) und Willi Kappich (Tabla) war für mich sehr wichtig. Meine beiden Stammband-Musiker haben beide eine sehr reiche musikalische Sprache, von der unsere Musik sehr profitiert; und genug Einfühlungsvermögen, um dem Song, den wir spielen gerecht zu werden. Lukas Finks Trompeten-Improvisationen finde ich schlicht kongenial, er findet immer den richtigen Klang an der richtigen Stelle und seine Sounds sind einfach wundervoll. Mit Raphael Zweifel ist auch mein jahrelanger musikalischer Traumpartner mit an Bord, wir haben in den letzten zehn Jahren immer mal wieder zusammengespielt und es war jedes Mal eine Wucht. Dadurch, dass er in Nizza (Frankreich) wohnt, ist daraus bisher leider keine kontinuierliche Zusammenarbeit geworden.
Alle Musiker sind (auch) in anderen musikalischen Formen zu Hause und vergrößern meine Möglichkeiten, mich auszudrücken. Es gibt sicher viele Wege, den eigenen musikalischen Horizont zu erweitern, aber mit guten Musikern zusammen zu spielen ist für mich der lebendigste, sinnlichste, nachhaltigste und damit beste. Und ich empfinde es als ein sehr großes Glück, dass mir solche Begegnungen immer wieder geschenkt werden. Die Musiker sind da, um mit mir meine Musik zu spielen, natürlich sollen sie sich darin auch wiederfinden, die Musik soll auch für sie da sein. Nur dann ist es gut.

Lange Zeit war „Bus nach Berlin“ ja „nur“ ein erster deutschsprachiger Song im Repertoire. Jetzt erweist sich der Text quasi als Prophezeiung. Aus dem Traum/der Träumerin ist Realität geworden, Du bist nach Berlin gegangen, warum und was erwartest Du persönlich und künstlerisch von der neuen Umgebung?

Es war einfach Zeit für etwas Neues. Ich bin eigentlich von meinem Wesen her kein großer Fan von Veränderung, aber obwohl ich gerade einen feinen Job hatte und eine eigene Wohnung, die ein richtiges Zuhause war, bin ich immer unglücklicher geworden. Es hat mir sehr an Austausch mit anderen Künstlern gefehlt, mein Umfeld hat sich in Frankfurt eher mit Excel-Listen und Kindererziehung befasst. Ich habe mich einfach dauernd als Fremdkörper gefühlt, versucht mich anzupassen. Aber ich hatte so einen Hunger nach Input und Austausch, das war einfach nicht mehr aufzuhalten.
Nach Berlin hat es mich gezogen, weil ich nach einem „SAGO“ da hin eingeladen wurde und ich nicht nur überall, wo ich hinkam, sehr herzlich aufgenommen wurde, sondern auch gleich noch eine bezahlbare Wohnung in Aussicht war, wonach ich in Frankfurt immerhin fünf Monate erfolglos gesucht habe. Input und Austausch sind in dem Berlin, das ich da kennengelernt habe, immer greifbar. Diese Chance, nach dem persönlichen Umbruch woanders neu anzufangen, musste ich einfach wahrnehmen. Andere machen ein Sabbat-Jahr, ich mache ein Berlin-und-die-Welt-Jahr. „Bus nach Berlin“ war ja tatsächlich ein Anfang, der erste deutsche Text, der Grund, weshalb ich überhaupt mal an einem „Liederslam“ teilgenommen habe, über den ich dann wiederum an Christoph Stählin herangekommen bin, dem ich wiederum den „Bus nach Berlin“-Text als Bewerbung für SAGO geschickt habe... so führte eins zum anderen und der Song wurde tatsächlich mein Ticket nach Berlin.

„Scripted Reality“ heißt das neue Album, der Titel soll zweierlei transportieren: Ausbruch und Aufbruch, raus aus alten Zwängen, Definitionen, hin zu – wie soll man es nennen – Freiheit und Abenteuer?

Freiheit unbedingt, Abenteuer in Maßen - ich brauche viel Zeit, um Abenteuer aller Art zu verarbeiten-, da darf's nicht zu viel auf einmal sein. „Scripted Reality“ ist ja ein Drehbuch, das behauptet, das wahre Leben zu sein; das zu erkennen und sich davon zu distanzieren bringt große Freiheit, aber sofort auch die Verantwortung, sich ein eigenes, wirkliches Drehbuch zu schreiben. Oder einfach zu improvisieren. Und zu erkennen, dass es im Leben vor dem Tod einfach kein „The End“ gibt, sei es nun happy oder nicht. Es geht einfach immer weiter. Und weil das Album meine „Abschlussarbeit“ zur „Scripted Reality“ ist, endet es eben mit dem Aufbruch zu Neuem, und dem Satz „Es ist alles im Fluss“. In meiner Muttersprache.

Es gibt ja nun erst mal den einen deutschen Text auf dem neuen Album. Aber es wird wohl nicht der letzte bleiben. Sag mal was zur Mainzer Akademie für Poesie und Musik SAGO, Christof Stählin und was Du da gelernt hast/noch zu lernen hoffst?

Weil „Scripted Reality“, wie gesagt eine Abschlussarbeit ist, sind die anderen Titel darauf noch in Englisch. Die Lieder haben lange in mir rumort, es ist Zeit, sie los zu lassen. Es sind schon andere deutschsprachige Titel in der Mache, die ich aber nicht mit auf dieses Album nehmen wollte, weil mir das dann einfach zu viel Kuddelmuddel gibt. Ich habe dafür keine Form gefunden, die mich überzeugt hat. Deshalb veröffentliche ich jetzt diese CD, mit sieben Liedern. Ich finde sieben ja eine sexy Zahl: sieben Zwerge, sieben Berge, sieben Siegel, gar nicht zu reden von sieben Brücken, über die man gehen muss oder fahren, mit Rückenwind.
Die Mainzer Akademie für Poesie und Musik ist 1989 von Christof Stählin gegründet worden. Christof war Musiker, Dichter und Kabarettist und Gentleman der alten Schule, der bei seiner ganzen Eigenwilligkeit und Größe und Bildung immer auch den Blick für Neues, Anderes hatte. Er hat eine Mischung aus poetischer Unterweisung, meistens anhand von Bildern, und direkter Kritik entwickelt, die seine Seminare ausmachten. Es gibt immer eine „Jahresaufgabe“, ein Thema zu dem alle Teilnehmer ein Lied schreiben, das dann in der Runde besprochen wird. Als Judith Holofernes im SAGO Kurs war, gab es das Thema „Denkmal“. Der Song von „Wir sind Helden“ dürfte das bekannteste Beispiel für diese Aufgabe sein, aber auch Bodo Wartke, Sebastian Krämer und Dota Kehr sind bekannte und dankbare SAGO- Teilnehmer.

Meine persönliche Begegnung mit Christof Stählin war auch so eine, die mich in ihrer positiven, freundlichen und offenen Art überrascht und umgehauen hat. Ich habe mich persönlich bei ihm in Hechingen vorgestellt, um mich für „SAGO“ zu bewerben. Ich dachte, wir trinke 20 min Kaffee, und dann fahre ich wieder Heim. Letztlich habe ich den ganzen Tag in Hechingen verbracht, der Gentleman hatte „sich erlaubt“ für uns zu kochen, sich dann zur Mittagsruhe gelegt und mich dann auf einen Spaziergang in die Umgebung eingeladen. Leider ist Christof Stählin letztes Jahr verstorben, aber SAGO wird von seinen Schülern weiter geführt. Gelernt habe ich bei SAGO, dass es sich lohnt, mit Texten achtsam umzugehen. Immer mal die Perspektive wechseln, überprüfen, ob das Lied sagt, was man eigentlich sagen will, oder ob es da noch irgendwo hakt, ob es eine verdeckte Botschaft gibt, der man nachgehen sollte. Und dass Texte schreiben einfach viel Arbeit ist. Natürlich habe ich auch an meinen englischen Texten viel und lange gearbeitet, aber die Unmittelbarkeit der deutschen Sprache macht das Texte schreiben auch in Deutsch zu einer langen Suche nach den richtigen Elementen.
„Bus nach Berlin“ war z.B. ursprünglich in der 2.Person geschrieben, also „halb im Traum brichst du auf ...“ da hat man mir sofort die Frage gestellt, wer das denn sein soll, dieses „du“. Die gute SAGO-Schule sagt, dass es besser-weil ehrlicher - ist „ich“ zu schreiben, wenn man „ich“ meint. Unvergleichlich wertvoll ist beim SAGO eben der Austausch mit Gleichgesinnten – so blöd das klingt, es ist eben etwas besonderes, mit Leuten über Liedtexte und Lieder zu reden, deren Sinn auch nach Liederschreiben steht und nicht nach anderen Dingen. Der Austausch kann gerade in Berlin auch weit über das eigentliche SAGO hinausgehen, man trifft sich in Wohnzimmern, der „Scheinbar“ oder beim Konzert der „Versammlung der Inseln“. Ich hoffe, dass mir das hilft, dran zu bleiben an den deutschen Texten, am Liederschreiben und am Künstlerin sein -mehr wollte ich doch nie.

>> Lucid, Ffm, Brotfabrik, 13.10, 20 Uhr, Eintritt: VVK 10,–/AK 13,–
 
Fotogalerie:
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11. Oktober 2016, 17.32 Uhr
Detlef Kinsler
 
 
 
 
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