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Lübcke-Prozess

Stephan Ernst: „Ich hätte es nicht tun dürfen“

Unter Tränen gestand Stephan Ernst im Juni 2019 den Mord an dem CDU-Politiker Walter Lübcke. Am Donnerstag wurde das vierstündige Video des mittlerweile widerrufenen Geständnisses vor dem Oberlandesgericht Frankfurt abgespielt.
Stephan Ernst sitzt an einem weißen Tisch, vor ihm sitzen zwei Polizisten. Er trägt ein rotes T-Shirt, eine braune Jogginghose und ist unrasiert – ein Anblick, den man von den Fotos seiner Verhaftung kennt. Er ist ruhig, nickt bejahend auf die Fragen des Polizisten und sagt zunächst kein Wort. Er atmet tief ein – und dann fängt Stephan Ernst in dem Vernehmungsvideo an zu reden und der ganze Gerichtssaal, inklusive ihm selbst, starrt auf die Leinwand hinter dem Vorsitzenden Richter und hört Ernsts Ausführungen vier Stunden lang zu. Von seinem Einstieg in die rechte Szene, seinem zwischenzeitlichen Austritt, seiner späteren Radikalisierung und dem Mord an Walter Lübcke.

Nach seiner Freilassung aus der Justizvollzugsanstalt Kassel habe er sich in einem Kreis aus autonomen Nationalisten, Nationalsozialisten, NPD-Anhängern und „Reichsbürgern“ bewegt. Durch diese habe er sich schließlich der „Freie Kameradschaft Kassel“ angeschlossen. Dort sei er dann aktiv geworden, aber auch davor sei er bereits ausländerfeindlich gewesen. Die Werte dieser Kreise habe er größtenteils mitgetragen. Er habe gedacht, dass Deutschland durch die Besetzung der Amerikaner nicht frei sei und dass Deutschlands Souveränität wiederhergestellt werden müsse, auch das Thema Überfremdung Deutschlands sei ein Problem gewesen. Den Gedanken einer „rassischen Überlegenheit“ seiner Kameraden habe er nicht mitgetragen.

Irgendwann habe er gemerkt, dass er so nicht weitermachen möchte. Nach Ausschreitungen auf einer Neonazi-Demo 2010 in Dortmund, die ihm eine Anzeige und eine Verurteilung einbrachten, habe er endgültig mit der rechtsextremen Szene gebrochen. Er habe sich daraufhin wegen seiner Depressionen in Therapie gegeben. „Ich wollte ein Teil dieser Gesellschaft sein“, erklärt Ernst unter Tränen in dem Video. Er habe seine Umwelt nicht mehr als feindlich wahrgenommen.

Ernst bricht im Gerichtssaal in Tränen aus

Auch für seine beiden Kinder, 15 und 17 Jahre alt, habe er sich gewünscht, Teil der Gesellschaft zu sein. Er habe ihnen gesagt, dass sie auf ihre Lehrer hören sollen; durch seine Vergangenheit habe er sich nicht in der Lage gesehen, sie gut zu erziehen. Als er in dem Video beginnt, mit zitternder Stimme über seine Kinder zu sprechen, bricht auch der im Gerichtssaal sitzende Stephan Ernst in Tränen aus. Er legt seine Arme auf den Tisch, vergräbt seinen Kopf. Sein Verteidiger Frank Hannig fordert eine Unterbrechung. Doch Ernst schüttelt den Kopf, als der Vorsitzende Richter ihn nach einer Pause fragt.

„Was ist dann passiert?“, wiederholt der im Video zu sehende Stephan Ernst die von dem Polizisten gestellte Frage und es scheint, als frage er sich dies plötzlich selbst. Durch die Medien und Gespräche mit seinen Arbeitskollegen habe er sich wieder vermehrt mit dem Thema Überfremdung beschäftigt, die Emotionen seien „wieder hochgekocht“. 2011 sei er dann dem Mitangeklagten Markus H. auf der Arbeit begegnet. Man habe sich über Politik unterhalten, doch er wolle Markus H. keine Schuld an seinen Taten geben. „Das was ich dann tat, habe ich aus eigenem Antrieb getan“, sagt Ernst.

Walter Lübckes Worte wurden ihm zum Verhängnis

Er erzählt von der Versammlung, bei der er Walter Lübcke zum ersten Mal sah und von dem bekannten Satz Lübckes: „Wer diese Werte nicht vertritt, kann dieses Land jederzeit verlassen.“ Er sei außer sich gewesen bei diesen Worten. Verschiedene „Schlüsselerlebnisse“ hätten ihn dann in seinem Beschluss, Walter Lübcke umzubringen, bestärkt: die Grenzöffnung 2015, die sexuellen Übergriffe in der Silvesternacht 2015/16, der Terroranschlag in Nizza und auf dem Breitscheidplatz und die Ermordung zweier Rucksack-Touristinnen in Marokko.

Geradezu manisch habe er sich immer und immer wieder das Video angeschaut, in dem man sieht, wie die Mädchen geköpft werden. Spätestens dort habe er beschlossen, Walter Lübcke etwas anzutun. „Ich habe in ihm jemanden gesehen, der für diese Anschläge verantwortlich ist“, so Ernst. Über Jahre sei er dann immer wieder zu Lübckes Haus gefahren. Bereits 2017 habe er eine Waffe dabeigehabt. „Ich wollte hinlaufen, schießen und wieder weglaufen, aber ich habe es nicht gemacht.“ Ein Jahr später habe er sich mit der Waffe in der Hand hinter einem Blumenkübel versteckt, drei Meter von Walter Lübcke entfernt. Warum er dort nicht geschossen habe, wisse er nicht.

Die letzten Gedanken vor der Tat

In der Nacht auf den 2. Juni 2019 wurden Stephan Ernsts Gedanken zu Taten. Er habe etwa 20 Minuten vor Lübckes Terrasse darauf gewartet, dass der Politiker erscheint. Als Ernst bereits zum Auto gehen wollte, habe er Lübcke plötzlich auf der Terrasse entdeckt. Dann sei alles ganz schnell gegangen. „Das letzte, an das ich dachte, waren die Schreie dieser Rucksack-Touristinnen“, sagt Ernst unter Tränen in der Aufzeichnung seines Geständnisses. Als der Polizist ihn fragt, ob er abschließend noch etwas sagen möchte, zeigt Ernst Reue: „Es tut mir unendlich leid, was ich getan habe und dass ein Mensch sterben musste, weil er die falschen Worte gesagt hat. Es tut mir unendlich leid, dass ich dieser Familie einen lieben Menschen genommen habe, der nie wieder zurückkommt. Es ist unverzeihlich.“

Zweites Geständnis am 30. Juni

Am 30. Juni wird der Prozess fortgeführt. Dann soll die Aufzeichnung von Ernsts zweitem Geständnis, in dem er die Tat bestreitet und den Mitangeklagten Markus H. beschuldigt, gezeigt werden.
 
Fotogalerie:
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19. Juni 2020, 13.03 Uhr
Elena Zompi
 
 
 
 
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