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Gesichter der Stadt
Der Krimi legt den Finger in die Wunde
Seit 1989 betreibt Jutta Wilkesmann die „Wendeltreppe“ in der Brückenstraße im Frankfurter Stadtteil Sachsenhausen. Die Buchhandlung war die erste für Kriminalromane auf dem europäischen Festland.
Das Brückenviertel ist eigentlich keine gefährliche Gegend. Mit Ausnahme der Brückenstraße, Hausnummer 34: Hier herrscht Gewalt, Mord und Totschlag. Wie viele Leichen genau? Das lässt sich schwer sagen. In der Ladenecke sitzt ein Detektiv mit Trenchcoat und Schlapphut, der die (ahnungslose?) Kundschaft genau im Blick behält. Doch seine Ermittlungen scheinen nicht voran zu gehen. Auf den Regalen stehen Holzskulpturen, eine davon mit einem Dolch. Inhaberin Jutta Wilkesmann ist eine Expertin in Sachen Krimi. Und alle eingefleischten Fans dieses Genres kennen die Buchhandlung natürlich: Die „Wendeltreppe“, die sich seit über 30 Jahren im Brückenviertel befindet, ist die erste Adresse für das blutrünstige Genre und hatte Jahrzehnte ein Alleinstellungsmerkmal, denn sie war die erste ihre Art auf dem europäischen Festland. Nur in London gab es bereits eine Krimibuchhandlung mit dem Namen „Murder One“.
Die Gründung der „Wendeltreppe“ ist beinahe romanreif, sagt Wilkesmann. 1947 zog sie mit ihren Eltern aus dem Berchtesgadener Land nach Frankfurt und hatte nach der Schule und einer Ausbildung zur Indus-
triekauffrau nur einen Wunsch: „Ich wollte nichts wie weg.“ Sie reiste durch Europa und arbeitete als Au-pair in England und Frankreich, bevor sie wieder nach Frankfurt kam. Es folgten Jobs auf der Buchmesse, einen konkreten Berufswunsch hatte sie nicht und eigentlich wollte sie auch nicht in der Stadt bleiben: „Frankfurt war mir nie ein Zuhause.“ Ein Krankenhausaufenthalt brachte Klarheit. Von ihrer Freundin Hildegard Gansmüller bekam sie einen Krimi geschenkt und plötzlich wusste sie, dass sie eine Krimibuchhandlung eröffnen will. Einen geeigneten Laden fand Wilkesmann in der Brückenstraße 54. Im hinteren Bereich führte eine Wendeltreppe in die obere Etage und damit war auch der Name der Buchhandlung geboren. Hildegard Gansmüller war gerade mit dem Studium fertig geworden und versprach, die ersten Monate zu helfen. Sie ist bis heute geblieben. Ein paar Jahre nach der Eröffnung folgte der Umzug in einen größeren Laden ein paar Häuser weiter, wo die „Wendel-
treppe“ seitdem ihr Zuhause hat. Auch hier gibt es noch eine solche Treppe, sie hat jedoch keine Funktion mehr und führt ins Nichts – wie mancher Roman auch.
Viele Vergleiche mussten Jutta Wilkesmann und Hildegard Gansmüller über sich ergehen lassen: So werden die Damen gerne als die Frankfurter Miss Marples bezeichnet, auch Parallelen zur Krimikomödie „Arsen und Spitzenhäubchen“ werden gerne gezogen, darin dreht sich ja auch alles um zwei liebenswerte Damen, die allerdings ein paar Leichen im Keller haben. In der Brückenstraße befinden sich die Leichen nicht im Keller, sondern im Regal: Über 4000 Titel gibt es hier. In Vor-Corona-Zeiten veranstaltete Wilkesmann Lesungen, zu denen u.a. Patricia Highsmith, James Ellroy, Hakan Nesser, Jan Costin Wagner und Milena Moser kamen. Es gab sogar mal eine eigene Zeitung, das „Kriminal-Journal“ mit Themen, wie der japanische Krimi oder Tiere im Krimi. Was fasziniert sie an Kriminalromanen? „Sie reagieren schneller auf gesellschaftliche und politische Ereignisse. Der Krimi legt den Finger in die Wunde“, sagt Wilkesmann. Und der Kriminalroman habe schon lange sein Image als Schundliteratur abgeschüttelt. Seit den 90er Jahren wurden Krimis bei den Leserinnen und Lesern immer beliebter und es ist interessant, wie sich das Genre in einzelnen Ländern entwickelt hat. Eine Autorin, die Wilkesmann nach wie vor sehr schätzt, ist Agatha Christie. „Die Krimis sind nie Häkel-Krimis gewesen. Sie beschreiben sehr treffend die sozialen Umstände ihrer Zeit. Außerdem war Agatha Christie eine politische Frau, die für die Unabhängigkeit der Frau stritt.“ Auch französische Krimis faszinieren sie, wie etwa die von Daniel Pennac und Georges Simenon. Ein Buch, das sie nicht loslässt, ist „Die Alte“ von der französischen Autorin Hannelore Cayre. Die Protagonistin muss sich ihren Lebensunterhalt als Arabisch-Dolmetscherin bei der Polizei verdienen. Sie hört Telefonate von Dealern ab und trickst irgendwann die Polizei aus. Was den deutschen Krimi oft so langweilig mache, seien zu lange Erklärungen und das deutsche Oberlehrertum: „Dadurch wird jede Spannung zerstört.“ Henning Mankell hat schwedische Krimis populär gemacht, die oft sehr blutrünstig sind.
Neben den Krimis gibt es in der „Wendeltreppe“ auch Kinderbücher und andere Literatur, wie etwa von Irmgard Keun. „Ich wollte nie die Bücher der Bestsellerlisten anbieten, sondern Bücher, die mir persönlich gefallen“, sagt Wilkesmann. Gibt es einen Krimi, der geschrieben werden müsste? Wilkesmann überlegt. „Ich würde mich über einen richtig guten Frankfurt-Krimi freuen.“ Ist die Stadt denn nach all den Jahrzehnten mittlerweile ein Zuhause geworden? Nein, sagt Wilkesmann und lacht: „Bis heute wundere ich mich, dass ich in Frankfurt bin.“
>> Dieser Text erschien zuerst in der April-Ausgabe des JOURNAL FRANKFURT (4/22).
Die Gründung der „Wendeltreppe“ ist beinahe romanreif, sagt Wilkesmann. 1947 zog sie mit ihren Eltern aus dem Berchtesgadener Land nach Frankfurt und hatte nach der Schule und einer Ausbildung zur Indus-
triekauffrau nur einen Wunsch: „Ich wollte nichts wie weg.“ Sie reiste durch Europa und arbeitete als Au-pair in England und Frankreich, bevor sie wieder nach Frankfurt kam. Es folgten Jobs auf der Buchmesse, einen konkreten Berufswunsch hatte sie nicht und eigentlich wollte sie auch nicht in der Stadt bleiben: „Frankfurt war mir nie ein Zuhause.“ Ein Krankenhausaufenthalt brachte Klarheit. Von ihrer Freundin Hildegard Gansmüller bekam sie einen Krimi geschenkt und plötzlich wusste sie, dass sie eine Krimibuchhandlung eröffnen will. Einen geeigneten Laden fand Wilkesmann in der Brückenstraße 54. Im hinteren Bereich führte eine Wendeltreppe in die obere Etage und damit war auch der Name der Buchhandlung geboren. Hildegard Gansmüller war gerade mit dem Studium fertig geworden und versprach, die ersten Monate zu helfen. Sie ist bis heute geblieben. Ein paar Jahre nach der Eröffnung folgte der Umzug in einen größeren Laden ein paar Häuser weiter, wo die „Wendel-
treppe“ seitdem ihr Zuhause hat. Auch hier gibt es noch eine solche Treppe, sie hat jedoch keine Funktion mehr und führt ins Nichts – wie mancher Roman auch.
Viele Vergleiche mussten Jutta Wilkesmann und Hildegard Gansmüller über sich ergehen lassen: So werden die Damen gerne als die Frankfurter Miss Marples bezeichnet, auch Parallelen zur Krimikomödie „Arsen und Spitzenhäubchen“ werden gerne gezogen, darin dreht sich ja auch alles um zwei liebenswerte Damen, die allerdings ein paar Leichen im Keller haben. In der Brückenstraße befinden sich die Leichen nicht im Keller, sondern im Regal: Über 4000 Titel gibt es hier. In Vor-Corona-Zeiten veranstaltete Wilkesmann Lesungen, zu denen u.a. Patricia Highsmith, James Ellroy, Hakan Nesser, Jan Costin Wagner und Milena Moser kamen. Es gab sogar mal eine eigene Zeitung, das „Kriminal-Journal“ mit Themen, wie der japanische Krimi oder Tiere im Krimi. Was fasziniert sie an Kriminalromanen? „Sie reagieren schneller auf gesellschaftliche und politische Ereignisse. Der Krimi legt den Finger in die Wunde“, sagt Wilkesmann. Und der Kriminalroman habe schon lange sein Image als Schundliteratur abgeschüttelt. Seit den 90er Jahren wurden Krimis bei den Leserinnen und Lesern immer beliebter und es ist interessant, wie sich das Genre in einzelnen Ländern entwickelt hat. Eine Autorin, die Wilkesmann nach wie vor sehr schätzt, ist Agatha Christie. „Die Krimis sind nie Häkel-Krimis gewesen. Sie beschreiben sehr treffend die sozialen Umstände ihrer Zeit. Außerdem war Agatha Christie eine politische Frau, die für die Unabhängigkeit der Frau stritt.“ Auch französische Krimis faszinieren sie, wie etwa die von Daniel Pennac und Georges Simenon. Ein Buch, das sie nicht loslässt, ist „Die Alte“ von der französischen Autorin Hannelore Cayre. Die Protagonistin muss sich ihren Lebensunterhalt als Arabisch-Dolmetscherin bei der Polizei verdienen. Sie hört Telefonate von Dealern ab und trickst irgendwann die Polizei aus. Was den deutschen Krimi oft so langweilig mache, seien zu lange Erklärungen und das deutsche Oberlehrertum: „Dadurch wird jede Spannung zerstört.“ Henning Mankell hat schwedische Krimis populär gemacht, die oft sehr blutrünstig sind.
Neben den Krimis gibt es in der „Wendeltreppe“ auch Kinderbücher und andere Literatur, wie etwa von Irmgard Keun. „Ich wollte nie die Bücher der Bestsellerlisten anbieten, sondern Bücher, die mir persönlich gefallen“, sagt Wilkesmann. Gibt es einen Krimi, der geschrieben werden müsste? Wilkesmann überlegt. „Ich würde mich über einen richtig guten Frankfurt-Krimi freuen.“ Ist die Stadt denn nach all den Jahrzehnten mittlerweile ein Zuhause geworden? Nein, sagt Wilkesmann und lacht: „Bis heute wundere ich mich, dass ich in Frankfurt bin.“
>> Dieser Text erschien zuerst in der April-Ausgabe des JOURNAL FRANKFURT (4/22).
25. April 2022, 12.59 Uhr
Jasmin Schülke
Jasmin Schülke
Studium der Publizistik und Kunstgeschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Seit Oktober 2021 Chefredakteurin beim Journal Frankfurt. Mehr von Jasmin
Schülke >>
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