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Bahnhofsviertel
„Manche von ihnen können sich nicht vorstellen, woanders zu leben“
Die Verlagerung von Heroin zu Crack, private Essensverteilungen, Müll, aggressives Verhalten oder auch Obdachlosigkeit – die Probleme im Bahnhofsviertel sind vielschichtig. Im Interview spricht Artur Schroers, Leiter des Drogenreferats, über Lösungswege und Strategien.
JOURNAL FRANKFURT: Mit welchen Aufgaben wurden Sie bisher konfrontiert, seit Sie die Leitung des Drogenreferats übernommen haben?
Artur Schroers: Das Drogenreferat ist mit der Konzeption, Koordination und Steuerung der gesamten Sucht- und Drogenhilfe in der Stadt betraut - von der Prävention bis zu niedrigschwelligen Hilfen. Die Leitung des Drogenreferats ist deshalb eine sehr vielfältige und sehr interessante Aufgabe. Der Frankfurter Weg der Drogenpolitik knüpft an meine Erfahrungen in der akzeptierenden Drogenarbeit an, in die ich vor rund dreißig Jahren eingestiegen bin. Ich habe mich hier zunächst mit den drogenpolitischen Zielen der Stadt befasst, die im Koalitionsvertrag der Stadtregierung stehen. Das betrifft insbesondere die Situation im Bahnhofsviertel, mit der ich mich im Moment schwerpunktmäßig befasse.
Vor welcher Problemsituation stehen wir im Bahnhofsviertel?
Ein großes Problem ist die starke Verbreitung von Crack. Neben Heroin ist Crack inzwischen die meist konsumierte Droge. Das hat die gesamte Drogenszene im Bahnhofsviertel stark verändert. Die Drogenhilfeangebote, die für Heroinabhängige jahrzehntelang gut funktioniert haben – Substitution mit Ersatzstoffen, Heroinvergabe, niedrigschwellige Einrichtungen oder Drogenkonsumräume, sind für Crack-Konsumierende nicht immer oder nur zum Teil geeignet.
Woran liegt das?
Crack ist mit völlig anderen Konsummustern verbunden. Das zu „Steinen“ verkochte Kokainsalz wird meist in der Crack-Pfeife geraucht. Wie andere sich eine Zigarette anzünden, wird es in schnellen Zügen auf der Straße geraucht. Die Konsumierenden gehen dafür eher nicht in die Einrichtungen. Das war und ist bei Heroin anders. Konsumräume bieten einen geschützten Raum, wo unter gesundheitlich sicheren Bedingungen konsumiert werden kann. Crack hat auch eine völlig andere Wirkung als Heroin. Es ist eine aufputschende Droge, ein „Upper“. Der Kick setzt bereits nach wenigen Sekunden ein und ebbt nach wenigen Minuten wieder ab. Die Leute sind so aufgedreht, dass sie nicht warten können, bis sie im Konsumraum an die Reihe kommen.
Also ist die Verlagerung von Heroin zu Crack als Leitdroge im Bahnhofsviertel die große Schwierigkeit?
Crack ist ein Punkt. Aber die Probleme im Bahnhofsviertel sind vielschichtig, es geht in den meisten Fällen nicht nur um den Drogenkonsum. Hinzu kommen häufig Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Wir haben es mit Geflüchteten zu tun, mit Menschen aus Europa ohne Anspruch auf Hilfen. Fast alle leiden unter schweren körperlichen und psychischen Erkrankungen. Viele sind auch nicht krankenversichert.
Welche Rolle spielt dabei das Bahnhofsviertel als Ort für die Drogenkonsumierenden?
Wenn Crack-Konsumierende in die Nähe des Bahnhofs kommen, zieht sie dieses Szenegeschehen mit seiner Dynamik unweigerlich an. Es ist also nicht nur die Substanz, sondern auch der Kontext, der eine Rolle spielt. Wir schätzen, dass sich etwa 300 Menschen dauerhaft in der Szene im Bahnhofsviertel aufhalten. Es ist ihr Lebensmittelpunkt. Manche von ihnen können sich nicht vorstellen, woanders zu leben. Wir haben aber auch sehr viele Auswärtige, unter anderem in den Konsumräumen. Mehr als 50 Prozent der Konsumraum-Nutzerinnen und Nutzer kommen aus umliegenden Gebieten, das reicht bis nach Bayern. Diese Angebote gibt es nämlich nirgendwo sonst. Mit dem gut ausgebauten Hilfesystem in Frankfurt stellen wir uns nicht nur den Problemen von ganz Hessen, sondern auch von den ganzen anderen Bundesländern.
Wie sieht nun Ihre Strategie aus, um die Situation im Bahnhofsviertel in den Griff zu bekommen?
Die komplexen Probleme sind nur interdisziplinär zu lösen. In Frankfurt haben wir deshalb dezernats- und sektorenübergreifende Arbeitsgruppen gebildet, in denen wir für alle Themen Lösungswege diskutieren. Unser Schwerpunkt ist natürlich die Suchthilfe, aber es geht es auch um Probleme wie private Essensverteilungen, um Müll, um aggressives Verhalten. Mir ist wichtig, dass wir möglichst mit „SMARTen“ Zielen arbeiten. Ziele müssen, um erreichbar und überprüfbar zu sein: Spezifisch, Messbar, Attraktiv, Realistisch und Terminiert sein. Wir arbeiten an Maßnahmen, die kurzfristig, mittelfristig und langfristig umgesetzt werden. Manches lässt sich nicht so schnell erreichen. Es gibt drogenpolitische Vorgaben im Koalitionsvertrag, wie zum Beispiel „Brücken aus dem Bahnhofsviertel in die weiterführenden Hilfen zu bauen“.
Kurzfristig hatte die Stadt bereits angekündigt, das Angebot von OSSIP (Offensive Sozialarbeit, Sicherheit, Intervention, Prävention) zu erweitern und beispielsweise das Nachtcafé länger zu öffnen. Welche mittelfristigen Ziele sind geplant?
Ab Januar 2023 wird es zwei zusätzliche Streetwork-Stellen bei OSSIP geben, das Nachtcafé wird auch wieder tagsüber geöffnet. Als mittelfristiges Ziel planen wir mit den Hilfsorganisationen, wie wir Menschen verstärkt aus dem Bahnhofsviertel lotsen. Aktuell laufen Gespräche über geeignete Ruhe- und Aufenthaltsräume sowie Tagesstrukturangebote außerhalb des klassischen Settings am Bahnhof. Es geht dabei vor allem um attraktive Angebote speziell für Crack-Konsumierende, die außerhalb des Hotspots Bahnhofsviertel liegen.
Und welche Ziele sind langfristig angesetzt?
Langfristig bedarf es einer bundes- oder gar landesweiten Gesetzesänderung. Wir haben in Deutschland das Legalitäts-Prinzip – wenn etwas verboten ist, dann muss gehandelt werden. Die Behandlung von Crack ist schwierig, weil uns keine Substitutionsmittel oder Originalstoffvergaben wie für Heroin zur Verfügung stehen. Wir benötigen Handlungsspielräume, um aussichtsreiche Wege zu erproben. Bisher haben dies zahlreiche Behörden blockiert. Zum Beispiel das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Mehr Handlungsspielräume für Modellprojekte haben wir gegenüber dem Bundesdrogenbeauftragten formuliert. Ebenso muss die medizinische und psychiatrische Versorgung der Menschen langfristig optimiert werden. Da befinden wir uns ebenfalls bereits in Gesprächen. Wir stoßen die Dinge an, die Probleme werden wir jedoch nur im Schulterschluss und gemeinsam lösen können. Als Drogenreferat schaffen wir den Rahmen dafür und auch in den einzelnen Ressorts ist die Bereitschaft sehr hoch, die Ziele zu verfolgen.
Viele Drogenkranke im Bahnhofsviertel sind mittlerweile gealtert. Das stellt die Stadt vor neue Herausforderungen. Wie wollen Sie mit älteren Drogenkranken umgehen?
Durch Substitution und Originalstoffvergabe verbessert sich der Gesundheitszustand von Drogenkranken spürbar und sie werden deutlich älter. Das ist sehr erfolgreich. Wir prüfen, inwieweit wir alt gewordene Drogenabhängige in bestehende Angebote integrieren können oder ob wir neue spezifische Angebote für diese Menschen brauchen. Beides ist in der Diskussion. Ich finde Betreutes Wohnen gut, doch die Angebote kosten viel Geld und der finanzielle Rahmen in Frankfurt ist limitiert. Wir müssen sehen, wer das finanziert. Dem Thema müssen wir uns stellen.
Seit Juli leitet Artur Schroers das Frankfurter Drogenreferat. Der Sozialpädagoge war zuvor sowohl in der Suchthilfe als auch in der Forschung tätig. Zu seinen Stationen zählen etwa Münster, Wien, Hamburg und Mainz.
Artur Schroers: Das Drogenreferat ist mit der Konzeption, Koordination und Steuerung der gesamten Sucht- und Drogenhilfe in der Stadt betraut - von der Prävention bis zu niedrigschwelligen Hilfen. Die Leitung des Drogenreferats ist deshalb eine sehr vielfältige und sehr interessante Aufgabe. Der Frankfurter Weg der Drogenpolitik knüpft an meine Erfahrungen in der akzeptierenden Drogenarbeit an, in die ich vor rund dreißig Jahren eingestiegen bin. Ich habe mich hier zunächst mit den drogenpolitischen Zielen der Stadt befasst, die im Koalitionsvertrag der Stadtregierung stehen. Das betrifft insbesondere die Situation im Bahnhofsviertel, mit der ich mich im Moment schwerpunktmäßig befasse.
Vor welcher Problemsituation stehen wir im Bahnhofsviertel?
Ein großes Problem ist die starke Verbreitung von Crack. Neben Heroin ist Crack inzwischen die meist konsumierte Droge. Das hat die gesamte Drogenszene im Bahnhofsviertel stark verändert. Die Drogenhilfeangebote, die für Heroinabhängige jahrzehntelang gut funktioniert haben – Substitution mit Ersatzstoffen, Heroinvergabe, niedrigschwellige Einrichtungen oder Drogenkonsumräume, sind für Crack-Konsumierende nicht immer oder nur zum Teil geeignet.
Woran liegt das?
Crack ist mit völlig anderen Konsummustern verbunden. Das zu „Steinen“ verkochte Kokainsalz wird meist in der Crack-Pfeife geraucht. Wie andere sich eine Zigarette anzünden, wird es in schnellen Zügen auf der Straße geraucht. Die Konsumierenden gehen dafür eher nicht in die Einrichtungen. Das war und ist bei Heroin anders. Konsumräume bieten einen geschützten Raum, wo unter gesundheitlich sicheren Bedingungen konsumiert werden kann. Crack hat auch eine völlig andere Wirkung als Heroin. Es ist eine aufputschende Droge, ein „Upper“. Der Kick setzt bereits nach wenigen Sekunden ein und ebbt nach wenigen Minuten wieder ab. Die Leute sind so aufgedreht, dass sie nicht warten können, bis sie im Konsumraum an die Reihe kommen.
Also ist die Verlagerung von Heroin zu Crack als Leitdroge im Bahnhofsviertel die große Schwierigkeit?
Crack ist ein Punkt. Aber die Probleme im Bahnhofsviertel sind vielschichtig, es geht in den meisten Fällen nicht nur um den Drogenkonsum. Hinzu kommen häufig Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Wir haben es mit Geflüchteten zu tun, mit Menschen aus Europa ohne Anspruch auf Hilfen. Fast alle leiden unter schweren körperlichen und psychischen Erkrankungen. Viele sind auch nicht krankenversichert.
Welche Rolle spielt dabei das Bahnhofsviertel als Ort für die Drogenkonsumierenden?
Wenn Crack-Konsumierende in die Nähe des Bahnhofs kommen, zieht sie dieses Szenegeschehen mit seiner Dynamik unweigerlich an. Es ist also nicht nur die Substanz, sondern auch der Kontext, der eine Rolle spielt. Wir schätzen, dass sich etwa 300 Menschen dauerhaft in der Szene im Bahnhofsviertel aufhalten. Es ist ihr Lebensmittelpunkt. Manche von ihnen können sich nicht vorstellen, woanders zu leben. Wir haben aber auch sehr viele Auswärtige, unter anderem in den Konsumräumen. Mehr als 50 Prozent der Konsumraum-Nutzerinnen und Nutzer kommen aus umliegenden Gebieten, das reicht bis nach Bayern. Diese Angebote gibt es nämlich nirgendwo sonst. Mit dem gut ausgebauten Hilfesystem in Frankfurt stellen wir uns nicht nur den Problemen von ganz Hessen, sondern auch von den ganzen anderen Bundesländern.
Wie sieht nun Ihre Strategie aus, um die Situation im Bahnhofsviertel in den Griff zu bekommen?
Die komplexen Probleme sind nur interdisziplinär zu lösen. In Frankfurt haben wir deshalb dezernats- und sektorenübergreifende Arbeitsgruppen gebildet, in denen wir für alle Themen Lösungswege diskutieren. Unser Schwerpunkt ist natürlich die Suchthilfe, aber es geht es auch um Probleme wie private Essensverteilungen, um Müll, um aggressives Verhalten. Mir ist wichtig, dass wir möglichst mit „SMARTen“ Zielen arbeiten. Ziele müssen, um erreichbar und überprüfbar zu sein: Spezifisch, Messbar, Attraktiv, Realistisch und Terminiert sein. Wir arbeiten an Maßnahmen, die kurzfristig, mittelfristig und langfristig umgesetzt werden. Manches lässt sich nicht so schnell erreichen. Es gibt drogenpolitische Vorgaben im Koalitionsvertrag, wie zum Beispiel „Brücken aus dem Bahnhofsviertel in die weiterführenden Hilfen zu bauen“.
Kurzfristig hatte die Stadt bereits angekündigt, das Angebot von OSSIP (Offensive Sozialarbeit, Sicherheit, Intervention, Prävention) zu erweitern und beispielsweise das Nachtcafé länger zu öffnen. Welche mittelfristigen Ziele sind geplant?
Ab Januar 2023 wird es zwei zusätzliche Streetwork-Stellen bei OSSIP geben, das Nachtcafé wird auch wieder tagsüber geöffnet. Als mittelfristiges Ziel planen wir mit den Hilfsorganisationen, wie wir Menschen verstärkt aus dem Bahnhofsviertel lotsen. Aktuell laufen Gespräche über geeignete Ruhe- und Aufenthaltsräume sowie Tagesstrukturangebote außerhalb des klassischen Settings am Bahnhof. Es geht dabei vor allem um attraktive Angebote speziell für Crack-Konsumierende, die außerhalb des Hotspots Bahnhofsviertel liegen.
Und welche Ziele sind langfristig angesetzt?
Langfristig bedarf es einer bundes- oder gar landesweiten Gesetzesänderung. Wir haben in Deutschland das Legalitäts-Prinzip – wenn etwas verboten ist, dann muss gehandelt werden. Die Behandlung von Crack ist schwierig, weil uns keine Substitutionsmittel oder Originalstoffvergaben wie für Heroin zur Verfügung stehen. Wir benötigen Handlungsspielräume, um aussichtsreiche Wege zu erproben. Bisher haben dies zahlreiche Behörden blockiert. Zum Beispiel das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Mehr Handlungsspielräume für Modellprojekte haben wir gegenüber dem Bundesdrogenbeauftragten formuliert. Ebenso muss die medizinische und psychiatrische Versorgung der Menschen langfristig optimiert werden. Da befinden wir uns ebenfalls bereits in Gesprächen. Wir stoßen die Dinge an, die Probleme werden wir jedoch nur im Schulterschluss und gemeinsam lösen können. Als Drogenreferat schaffen wir den Rahmen dafür und auch in den einzelnen Ressorts ist die Bereitschaft sehr hoch, die Ziele zu verfolgen.
Viele Drogenkranke im Bahnhofsviertel sind mittlerweile gealtert. Das stellt die Stadt vor neue Herausforderungen. Wie wollen Sie mit älteren Drogenkranken umgehen?
Durch Substitution und Originalstoffvergabe verbessert sich der Gesundheitszustand von Drogenkranken spürbar und sie werden deutlich älter. Das ist sehr erfolgreich. Wir prüfen, inwieweit wir alt gewordene Drogenabhängige in bestehende Angebote integrieren können oder ob wir neue spezifische Angebote für diese Menschen brauchen. Beides ist in der Diskussion. Ich finde Betreutes Wohnen gut, doch die Angebote kosten viel Geld und der finanzielle Rahmen in Frankfurt ist limitiert. Wir müssen sehen, wer das finanziert. Dem Thema müssen wir uns stellen.
Seit Juli leitet Artur Schroers das Frankfurter Drogenreferat. Der Sozialpädagoge war zuvor sowohl in der Suchthilfe als auch in der Forschung tätig. Zu seinen Stationen zählen etwa Münster, Wien, Hamburg und Mainz.
28. November 2022, 10.46 Uhr
Sinem Koyuncu
Sinem Koyuncu
Jahrgang 1996, Studium der Politikwissenschaft an der Goethe-Universität, seit Oktober 2021 beim Journal Frankfurt. Mehr von Sinem
Koyuncu >>
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