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Demokratie gestalten

„Verfahren direkter Demokratie führen oft in eine Sackgasse“

Im Januar veröffentlichten wir ein Interview mit Professor Frank Dievernich unter dem Titel „Bauen am Wir“. Dazu hat sich Professor Rudolf Steinberg geäußert und einige Thesen kritisiert.
Im Januarheft des JOURNAL FRANKFURT hat der neue Vorsitzende der Stiftung Polytechnische Gesellschaft Frank Dievernich seine Pläne für die zukünftige Arbeit der Stiftung erläutert. In einem letzten Absatz, der sich mit notwendigen Änderungen der Stadtpolitik befasst, empfiehlt er, „zu ganz konkreten Einzelfragestellungen die Bürger an die Urnen zu holen“. Er denkt dabei an Themen, die „so komplex“ sind, „dass die Politiker, die wir gewählt haben, diese nicht bewältigen können.“ Diese Gedanken, die er in ähnlicher Form auf dem Neujahrsempfang der IHK geäußert hat, verdienen einige Anmerkungen.

Zu Recht kritisiert er die Strukturen und Regularien, die die Stadt erdrosselten. Aber sind hier Verfahren direkter Demokratie ein probates Heilmittel? Zunehmend wird nämlich erkannt, dass diese nicht den Königsweg darstellen, sondern oftmals in eine Sackgasse führen: Ihre Nutzung ist sozial höchst selektiv; schon die Art der Fragestellung kann manipulativ wirken; gerade komplexe Fragen können mit einer simplen Ja/Nein-Mechanik nicht angemessen erfasst werden; notwendige Kompromisse sind kaum möglich.

Verfahren direkter Demokratie: Minderheiten entscheiden

Am Ende entscheiden mehr oder weniger kleine Minderheiten, die für die Folgen ihrer Entscheidung keinerlei Verantwortung tragen. Vor allem aber: Die Manipulation durch die Neuen Medien im Netz birgt die große Gefahr von Fehl- und Falschinformationen. So wird heute schwieriger denn je, im Dschungel der Informationsflut sachliche und korrekte Informationen zu erhalten. Oftmals werden diese auch gar nicht gesucht, wenn sich die Einzelnen in ihre jeweilige Echokammer eingeschlossen haben. Angesichts dieses Befundes wirken die Rufe nach Bürgerentscheidungen gerade bei komplexen Entscheidungen aus der Zeit gefallen.





Harald Schröder

Aber auch bei relativ einfachen Entscheidungen sind negative Effekte wie der des NIMBY (not in my own backyard) zu beobachten: In Flörsheim – zahlreiche ähnliche Beispiele ließen sich nennen – war vor einigen Jahren ein Bürgerentscheid gegen eine Umgehungsstraße für die B 519 erfolgreich: Die geplagten Anwohner der Ortsdurchfahrt unterlagen knapp mit 49,1 Prozent gegen 50,9 Prozent den Gegnern, die ihren freien Spaziergang beeinträchtigt sahen. Nicht abstimmungsberechtigte Kinder und Einwohner blieben ohnehin außen vor. Gerade dieses kleine Beispiel zeigt den Sinn des repräsentativen Systems der Gemeindevertretung, deren Beratungen und Entscheidungen die Chance besitzen, unmittelbare Interessenstandpunkte überwinden zu können.

Direkte Demokratie vs. repräsentatives System der Gemeindevertretung


Wie sollen denn dann die zurecht kritisierten Strukturen und Regularien in Angriff genommen werden? Durch engagierte Maßnahmen der Verwaltungsreform. Es geht hierbei nicht um die Verschiebung von Amtskästchen zwischen den Dezernaten, sondern um die Etablierung von Verfahren, die die verschiedenen Akteure vor allem der Verwaltung zu einem aufgaben- und zielorientierten Zusammenwirken bringen. Verwaltungsreform geht so weit über die auch anstehende Digitalisierung der Verwaltung hinaus. Der neugewählte Frankfurter Oberbürgermeister wäre gut beraten, sich tatkräftig dieses Themas anzunehmen.

Sein Interview stellt Dievernich unter die Überschrift des „WIR“. In der IHK-Rede bemüht er den überparteilichen Schulterschluss. Bei dem Wort sollte die Warnung des großen sozialdemokratischen Rechtsphilosophen und Reichsjustizministers Gustav Radbruch bedacht werden: Die Überparteilichkeit stelle die Lebenslüge des Obrigkeitsstaates dar. Hinter dem blenderischen „WIR“ verbirgt sich das Dunkel der unterschiedlichen Werte, Interessen und Konflikte.

Alternativen zur direkten Demokratie erproben

Die Ausdifferenzierung der Gesellschaft hat in den vergangenen Jahren dramatisch zugenommen, wie der Berliner Soziologe Andreas Reckwitz in seinem vielbeachteten Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“ scharfsinnig beschreibt. Diese werden nicht überwunden durch die Beschwörung von Homogenität, Überparteilichkeit oder „WIR“, sondern bedürfen anstrengender Prozesse der Kompromissfindung. Der Politik kommt hier nicht nur die Rolle des Mediators zu. Der Oberbürgermeister müsste hierbei vielmehr eine aktive Führungsrolle übernehmen, die von einer zukunftsorientierten, der Bürgerschaft insgesamt verpflichteten Stadtgestaltung bestimmt wird.

Dabei bleiben die Bürger nicht außen vor: Nicht nur legitimieren sie die Repräsentanten durch die Wahl. Sie sind mit ihrer Problemsicht, aber auch mit ihrer Kompetenz möglichst frühzeitig in die konkrete Entscheidungsfindung einzubeziehen. Hier spielen sachverständige Beiräte, Verbände, nicht zuletzt die politischen Parteien, auf kommunaler Ebene auch Wählervereinigungen und Ortsbeiräte eine unentbehrliche Rolle. Neue Beteiligungsverfahren in mediativen Dialogforen oder von Bürgerräten sollten auch auf kommunaler Ebene, vor allem in großen Gemeinden erprobt werden. So lassen sich die repräsentativen Strukturen verbessern und ergänzen, auch ohne sich auf die Verfahren direkter Demokratie einzulassen.

Info___________________________________________________________________

Das Interview unter dem Titel „Bauen am Wir“ mit Frank Dievernich finden Sie hier. Beide Texte sind auch in der Print-Ausgabe des JOURNAL erschienen. Alle ePaper finden Sie hier.
 
Fotogalerie:
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28. April 2023, 11.40 Uhr
Rudolf Steinberg
 
 
 
 
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