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Weihnachten allein

„Das Gefühl der Einsamkeit kennt jeder Mensch“

An Weihnachten verbringt man Zeit mit der Familie – diese Annahme hat sich in unseren Köpfen verfestigt. Doch was, wenn man Weihnachten allein verbringen muss? Psychologin Sujata Amend-Sarkar erklärt, wie man die Weihnachtszeit allein gut übersteht.
JOURNAL FRANKFURT: Frau Amend-Sarkar, wird Weihnachten als traditionelles Familienfest überbewertet?
Sujata Amend-Sarkar: Zu diesem Schluss könnte man kommen. An Weihnachten möchten viele Menschen mit ihrer Familie oder mit nahen Freunden zusammen sein. Aus meiner Betrachtung ist es die große Sehnsucht nach Geborgenheit, der Wunsch, eine schöne Weihnachtstimmung zu erleben. Diese Wünsche und Vorstellungen sind wiederum geprägt und beeinflusst durch anheimelnde Weihnachtsmythen, die in Filmen, Büchern und dekorativen Elementen in Läden, aber auch in vergangenen Kindheitserinnerungen präsentiert werden. Dies könnte eine Sehnsucht nach Familie gerade in der Weihnachtszeit wecken. Menschen, die einen Großteil des Jahres ihr Alleinsein akzeptieren können, entwickeln an Weihnachten mitunter den Wunsch, im Kreise der Familie zu sein.

Warum fühlen sich viele Menschen besonders einsam, wenn sie an Weihnachten allein sind?
Es gibt eine große Anzahl von Menschen, die, wenn sie allein feiern, diese Gefühle des Alleinseins, der Einsamkeit, Traurigkeit oder Enttäuschung erleben. Diese Gefühle entwickeln sich aller Wahrscheinlichkeit nach, wenn das Alleinsein nicht freiwillig gewählt ist. Es ist zu bedenken, dass wir alle von Zeit zu Zeit mit dem Gefühl des Alleinseins konfrontiert werden. Einsamkeit ist ein existenzielles, grundlegendes Gefühl, das wir alle in unserem Leben mehrfach erleben. An Weihnachten werden solche Gefühle einfach spürbarer, weil unsere alltäglichen Aufgaben, beispielsweise die Arbeit, nicht mehr ablenken können. Die Welt steht still, der Alltag ist angehalten, die Menschen können sich weniger ablenken.

Was kann man selbst gegen dieses Gefühl tun?
Das Problem ist, dass Menschen, die allein sind, oftmals denken, dass es nur ihnen so geht und dass alle anderen jetzt mit ihren Familien ein tolles Weihnachtsfest erleben. Wenn wir dieses Gedankenexperiment weiterdenken und Menschen sich bewusst machen, dass auch andere Mitmenschen in diesem Moment allein sind, dann können sie eine imaginative Verbundenheit zu anderen Menschen entwickeln. Das minimiert den Leidensdruck – wie sagt der Volksmund: „Geteiltes Leid ist halbes Leid“. Diese Perspektive wird als „universelles Leiden“ bezeichnet. Das Gefühl der Einsamkeit kennt jeder Mensch – ungeachtet dessen, ob er allein oder in einer Gemeinschaft ist. An Weihnachten kann sich das Gefühl verstärken, da der Wunsch nach dem Zusammensein mit vertrauten Menschen, Familie und Geborgenheit besonders groß ist.

Und wenn es einem nicht gelingt, sich dadurch seine eigene Einsamkeit erträglicher zu machen?
Es ist sehr grundlegend hilfreich, eine Haltung der emotionalen Akzeptanz zu entwickeln – zu lernen, Gefühle wahrzunehmen und zu akzeptieren, wie die Gefühle in diesem Moment sind. Viele Menschen versuchen, ihre Gefühle zu unterdrücken – das wird häufig aus der Gesellschaft heraus suggeriert, zum Beispiel werden Aussagen kommuniziert: „Stell dich nicht so an! Jetzt heul doch nicht! Ist doch nicht so schlimm!“ Wir werden förmlich dazu sozialisiert, Gefühle zu unterdrücken. Gefühle sollten erlaubt sein und angemessen ausgedrückt werden. Eine akzeptanzbasierte Intervention beziehungsweise Strategie wäre: Erster Schritt – das Gefühl wahrnehmen, zweiter Schritt – das Gefühl annehmen und akzeptieren.

Als dritter Schritt die unter anderem von Psychologen und psychologischen Psychotherapeuten gut vermittelte Abdominal- beziehungsweise Bauchatmung: tief in den Bauch einatmen, sodass sich die Bauchdecke hebt, genauso lange ausatmen wie Sie eingeatmet haben und immer wieder versuchen, das Gefühl der Einsamkeit oder des Alleinseins anzunehmen, bis sich die emotionale Belastung gesenkt hat. Es geht um Akzeptanz: So wie es ist, so ist es. Es ist auch in Ordnung, wenn ich Weihnachten allein feiere. Oder eine metakognitive Strategie: Erster Schritt – wieder das Gefühl oder den Gedanken wahrnehmen, zweiter Schritt – versuchen, den Gedanken ziehen zu lassen wie Wolken am Himmel. Also nicht grübelnd den belastenden Gedanken weiterbearbeiten.

Können Sie, neben dem Gedankenexperiment, auch Aktivitäten empfehlen für Menschen, die an Weihnachten allein sind?
Ich würde Menschen, die im Vorfeld bereits wissen, dass sie an Weihnachten allein sind, empfehlen, einen aktiven Plan zu gestalten. Sie könnten sich vor dem Weihnachtsfest Gedanken darüber machen, wie sie die Weihnachtszeit alternativ zu dem „Entwurf Familienfest“ verbringen könnten. Ob sie vielleicht in die Kirche gehen wollen oder auf eine angebotene Veranstaltung. Darüber hinaus kann es für einige Menschen hilfreich sein, ihr Zuhause schön zu gestalten – zum Beispiel mit Kerzen, Musik, Dekoration, Weihnachtsliteratur – oder einen Weihnachtsspaziergang zu machen und das Lieblingsgericht zu kochen. Im Bereich der Selbstfürsorge lässt sich das Weihnachtsfest gut zelebrieren. Außerdem besteht die Möglichkeit, bei der Tafel zu helfen oder sich anderweitig gemeinnützig zu engagieren.

Wohin können sich Betroffene wenden, wenn das alles nicht hilft?
In einer akuten lebensbedrohlichen Krise können sich betroffene Menschen jederzeit an den zuständigen psychiatrischen Krisendienst unter der Rufnummer 117 118 wenden.

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Sujata Amend-Sarkar: Diplom-Psychologin und psychologische Psychotherapeutin – im Schwerpunkt für Erwachsene und im Zusatz für Kinder und Jugendliche. Seit 2010 ist sie in ihrer eigenen Praxis niedergelassen und ist parallel dazu als freie Dozentin an Ausbildungsinstituten tätig.

Dieses Interview ist als Teil der „Stille Nacht – Einsame Nacht?“-Story bereits in der Dezember-Ausgabe (12/21) des JOURNAL FRANKFURT erschienen.
 
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24. Dezember 2021, 10.41 Uhr
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