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Kulturgipfel im Nordosten
Bergen-Enkheim: Wo Frankfurt steil geht
Oben Bergen, unten Enkheim, hundert Höhenmeter dazwischen. Der nordöstlichste Stadtteil Frankfurts bietet Stadtschreiber, Schelmenspieler und Frankfurts ältestes Einkaufszentrum.
Struppige Obstbäume, vier Holzliegen und eine rostfarbene Tafel, die eine Linie von Kiew nach Santiago de Compostela zeigt. Hier, am Entrée Hohe Straße nahe der B521, führte die Königstraße Via Regia einst auf einem Höhenkamm über Bergen-Enkheim nach Frankfurt. Dem Himmel näher, kamen Kaufleute, Pilger und andere Umherziehende durchs Dorf.
Heute wirkt die Mainmetropole hier, an ihrem nordöstlichsten Zipfel, so richtig hessisch. Auf dem Berger Rücken geht das Großstadtgefühl in Landlust über, das entschleunigt so manchen Stadtmüden. Südlich weiter unten fließt der Main, östlich dämmert der Spessart, nördlich duckt sich der Bad Vilbeler Wald vor der Wetterau. Und geradeaus? Nix als Horizont. Und Grillenzirpen, wenn nicht gerade Rushhour ist.
„MEN in Bergen“ – „Ich fühle mich gut besetzt“
Irgendwo hier muss es liegen, das von Matthias Keller gehütete „Musikschutzgebiet Wald“. So heißt sein neues Soloprojekt. Die Single „Angstherzen“ ist gerade raus – „leicht bewölkter Pop“, deutschsprachig, angelehnt an den 80er New Wave Sound. Das Mitglied der legendären A-cappella-Gruppe U-Bahn-Kontrollöre in tiefgefrorenen Frauenkleidern – Markenzeichen: 1,91 Meter groß, mit hochgesträhnter Frisur noch größer – lebt seit 2008 in Bergen-Enkheim.
Seine Tochter war unterwegs. Wie andere Väter schloss er sich dem Stammtisch „MEN in Bergen“ an und lebte sich ein. Die Nähe zur Natur sei wichtig für eine „kreative Allzweckwaffe“ wie ihn. Keller macht nicht nur Musik, er liest Hörbücher ein und tritt in der Live-Kult-Hörspielreihe „Die drei ???“ auf, ist Stationvoice bei hr1. Erstmals darf der 54-Jährige am Freitag, 30. August, das Stadtschreiberfest moderieren.
Die Kulturgesellschaft hat ihn engagiert. „Ich fühle mich gut besetzt“, sagt Keller. Er sieht sich als Entertainer. Unser David Bowie heißt Heinz Schenk. Traditionell findet die Zeremonie im Festzelt des Berger Marktes statt. Feuilleton und Frischgezapftes – das passt, so liebt das Stammpublikum das.
Die Stadtschreiber in Frankfurt Bergen-Enkheim
Blickachsen durch Streuobstwiesen auf die Skyline haben zwei Generationen von Stadtschreibern immer wieder beflügelt. Wilhelm Genazino, Preisträger von 1996/97, war kein Landschaftspoet. „Aber hier könnte ich mit Üben anfangen“, fand er. Fünfzig Namensschilder aus dem Who is Who der Literaturszene hängen am schlichten Stadtschreiberhaus An der Oberpforte 4 – von Pionier Wolfgang Koeppen über die spätere Nobelpreisträgerin Herta Müller bis hin zu Nino Haratischwili im Jubiläumsjahr.
Sie übergibt den Schlüssel an ihren Nachfolger Dinçer Güçyeter. Mit dem bekennden Nicht-Akademiker geht der Literaturzirkus in die 51. Runde. 1974 war der Preis der erste seiner Art im deutschsprachigen Raum. Der Bergen-Enkheimer Franz Joseph Schneider, Mitglied der „Gruppe 47“ und Freund von Heinrich Böll, hatte ihn in der damals noch eigenständigen Kleinstadt auf den Weg gebracht. Der Preis beinhaltet 20 000 Euro und ein Jahr Wohnrecht im Stadtschreiberhaus. Eine Residenzpflicht existiert nicht, aber das Versprechen, Menschen mit Literatur zu berühren.
Das Stadtschreiberhaus © Dirk Ostermeier
Mark Twain und Heinrich Heine – Was haben sie mit Bergen-Enkheim zu tun?
Bergen-Enkheim und Bücher, das hat eine lange Tradition. Die Ortssage „Schelm von Bergen“ ging um die halbe Welt. Mark Twain entdeckte sie auf seiner Deutschlandreise und veröffentlichte „The Knave of Bergen“ in den USA. Auch Heinrich Heine schrieb eine Schelm-Version. Aus der Feder des Heimatdichters Conrad Weil wiederum wird die Story alle vier Jahre lebendig. Die Schelmenburg bietet die passende Kulisse dazu.
Nach der Ortshistorie waren die Schelme einfache Rittersleut'. Zunächst bauten sie eine Holzburg und um 1700 das barocke Wasserschlösschen, heute ein Wahrzeichen des Stadtteils. Hinterlassen haben sie ein Wappen mit zwei roten Bögen – blutige Rippen. So weit die Fakten. In der Fiktion ist der Schelm ein Scharfrichter, der als Ritter verkleidet die Frechheit besitzt, mit der Kaiserin zu tanzen. Als der Schwindel auffliegt, droht ihm das Todesurteil. Freilich gibt’s ein Happy End: Der Kaiser kennt Gnade und schlägt ihn zum Edelmann.
Schelmenspiel: „Der Kaiser ist schon eine coole Nummer“
Frank Fella (59) ist Vorsitzender der Förder- und Trägergruppe Schelmenspiel. Der Verwaltungsbeamte liebt das Spektakel. Gecastet als „großer Kerl mit lauter Stimme“, ist er seit 2005 in fast jede Hosenrolle geschlüpft. Voriges Jahr hatte Fella endlich die Krone auf. „Der Kaiser ist schon eine coole Nummer“, sagt er. Aber unter 50 Laien, die jedes Mal aufs Neue ein Ensemble bilden, seien alle wichtig. Sie proben monatelang und wuppen vier Aufführungen.
Dank der Magie des Theaters haben die Spieler keine Nachwuchssorgen. Fella, 59, ist der Nestor im Vorstand mit lauter Jungen. „Der Schelm ist ein Stück Bergen-Enkheim“, betont der gebürtige Seckbacher. Derzeit berate man über Spin-offs. Die Spannung steigt, ob die Sage vom Schelm das Zeug zur Saga hat.
Unverkennbar Bergen-Enkheim: der Weiße Turm
Heimatkunde: Bergen liegt auf dem Berg, Enkheim im Tal. Der Doppelort gehörte zur Grafschaft Hanau. Die Grafen wollten der Reichsstadt Frankfurt klare Kante zeigen. Um 1500 sicherten sie Bergen mit einer Ringmauer mit Tor- und Helmtürmen sowie Rondellen. Zwischen evangelischer Kirche und dem Hotel Zur Schönen Aussicht sieht man ein Teil rekonstruiert. Als letzter Backenzahn steht noch original der Weiße Turm in der Straße Am Weißen Turm.
Im Verlies soll so mancher Gefangene gehockt haben, bis am Galgen nahe der Berger Warte seine letzte Stunde schlug. Heimatkunde für Fortgeschrittene: Die Warte steht auf Seckbacher Grund. Der Volksmund sagt: „Der Berjer geht zum Dienst, der Enkemer uff die Arbeit.“ Was daher rührt, dass Bergen Verwaltungssitz war und Enkheim Fabriken hatte. Wo die Marktstraße sich quetschen muss, steht das Alte Rathaus, eine Fachwerkperle der Spätrenaissance, Sitz des Heimatmuseums. Seit bald zehn Jahren ist es eingerüstet. Die Denkmalsanierung zieht sich – ein hoher Nervfaktor für Anwohner und die umliegende Gastronomie.
Gastronomie im Nordosten Frankfurts
Italienisch, griechisch, indisch, Bierkneipen: Die Marktstraße, in der einst durchziehende Händler zechten, ist noch immer Gastro-Meile. In der Alten Post serviert Kult-Wirtin Dragi Apfelweinküche. Bis etwa 1900 übrigens wurde an den steilen Lagen des Berger Hangs großflächig Wein angebaut. Streuobst hat die Wingerte ersetzt. Vor genau 500 Jahren ließen die Mönche von Haina die Nikolauskapelle errichten. Das Gebäude mit seinen hübschen spätgotischen Fenstern ist Veranstaltungsort und Trausaal.
Der perfekte Tag, wie sieht er aus? Im Sommer ab ins Freibad mit weiten Liegewiesen unter alten Bäumen nahe dem Naturschutzgebiet Enkheimer Ried. 2023 wurde es saniert. Die Edelstahlbecken mit Wasserrutsche und Whirl versprühen Urlaubsfeeling. Danach auf einen Cappuccino zur Kuchenfee unten in der Triebstraße oder oben in die Eisdiele oder ins Schätze Bergn Café mit Ambiente-Store.
Freibad in Bergen-Enkheim © Dirk Ostermeier
Abends dann ab in den Sitzsack, falls gerade Open Air Festival ist. Veranstalter ist BENG, kurz für Bergen-Enkheimer Nachbarschaftsgedöns. Die freie Initiative möchte „ohne Umwege“ Kultur-Events schaffen, um den Stadtteil zu beleben und die Kommunikation zu fördern, sagt Mitgründer Christoph Stübbe. Kino, Musik und Poetry Slam, das stemmt BENG seit 2021 mit dem Jugendhaus. Die Filme kommen vom kinoSommer Hessen, Mittel über den Ortsbeirat. BENG ist ein Kind der Pandemie, aber nicht passé. Im Dezember will die Initiative wieder einen Lebendigen Adventskalender veranstalten.
„Gallisches Dorf“ feiert 2024 mehrere Jubiläen
Derweil meldet sich die städtische Kulturgesellschaft aus der Versenkung zurück. Laut Grenzänderungsvertrag, den Bergen-Enkheim 1977 mit Frankfurt schloss, soll sie kulturelles Leben im Stadtteil garantieren – ein Sonderrecht. Wegen Personalquerelen war jahrelang Stillstand. Der neue Geschäftsführer Mark Gläser versucht nun, den Laden wieder flott zu machen. Er organisiert die Stadtschreiber-Lesungen und das Volksfest Berger Markt.
Denn Tradition wird im „Gallischen Dorf“ großgeschrieben. Dieses Jahr gibt es viele Jubiläen: TV Bergen feiert 150, Obst- und Gartenbauverein 125, Freiwillige Feuerwehr Bergen 100 Jahre Bestehen. Seit 47 Jahren krönt Bergen-Enkheim seine eigene Apfelweinkönigin. Die neue heißt Marie Sophie Eibl, 28 Jahre jung, Ur-Enkheimerin. Zum Vereinsleben kommen Gemeindeaktivitäten rund um vier Kirchen.
„Was hält einen jungen Menschen nach dem Schulabschluss hier?“
Wegen der Lage und der Vereine ist der Stadtteil bei jungen Familien beliebt. Und noch viele werden ins Neubaugebiet Riedbogen an der Leuchte ziehen. Aktuell indes hat Bergen-Enkheim mit gut 45 Jahren den höchsten Altersdurchschnitt der Stadt. Zum Vergleich: Im halb so großen Kalbach-Riedberg sind die Menschen im Schnitt 37 Jahre alt. Über sowas macht sich Kim Nielsen Gedanken.
Der 21-jährige Informatikstudent sitzt seit zwei Jahren für die SPD im Ortsbeirat. Er ist der jüngste im „16er“. Überalterung, sehr hohe Wohnkosten, kein Nachtleben, „dazu noch die relative Abgeschiedenheit“. Kim Nielsen fragt sich: „Was hält einen jungen Menschen nach dem Schulabschluss hier?“ Die Wege mit Bus und U-Bahn seien zeitfressend und unzuverlässig. „Für eine Mobilitätswende reicht das Angebot nicht aus,“ beklagt Nielsen.
Das Thema ist hochaktuell, seit Stadt und RMV im April Ideen für eine Variante der Regionaltangente Ost vorstellten. Im Saal der Stadthalle schlugen die Wellen hoch. Viele Anwesende bangten um Sportstätten, Erholungsgebiete, letztlich um Wohlstand und Existenz. Populistische Flugblätter folgten. Seither wird engagiert über alte und neue Trassen diskutiert, auch die Idee für eine Seilbahn ist wieder da. Kim Nielsen sieht es differenziert: „Ich finde gut, dass man überhaupt daran denkt, Bergen-Enkheim besser an die Schiene anzuschließen.“ So sei es doch bei der Eingemeindung versprochen worden.
Hessen-Center: erstes Einkaufszentrum in Frankfurt nach dem MTZ
Mut zum Wandel, das braucht auch Burcu Cekirdek. Die 27-jährige Hamburgerin ist seit zwei Jahren Managerin des Hessen-Centers (HC). Aktuell stehen von 115 Geschäften knapp 20 Ladenflächen leer. Die Schließung des Kaufhofs, Umbau, Lockdowns, Insolvenzen von Modeketten – all das hat Löcher gerissen. „Oberste Maxime ist jetzt, dass die Kundschaft treu bleibt“, sagt Cekirdek. Das 1971 eröffnete Center war das erste in Frankfurt nach dem MTZ auf der grünen Wiese. Der Verkauf des verkehrsgünstig gelegenen Areals brachte Bergen-Enkheim einen Batzen Geld. Viele Kunden kennen das HC von Kindheit an, Einzelbetreiber halten am Standort fest.
Die Boutique „Corny's“ etwa feiert 40. Jubiläum. Das freut die Managerin: „Trotz der Leerstände haben wir eine Stabilität.“ Drei große Filialisten mit zwei Buchstaben sind noch da. Kunden finden Fashion-Marken, dazu Dinge des täglichen Bedarfs. Dazwischen gibt es kreativ beklebte Schaufenster, Selfie-Lounges und Pop-up-Läden. „Es hat keinen Sinn, den Leerstand zu kaschieren“, sagt Cekirdek. Maxime sei, Verweilorte bieten, andere Zielgruppen anzuziehen.
Das möchte das HC gemeinsam mit örtlichen Akteuren erreichen. Die Stadtteilbibliothek will einziehen, die Kulturgesellschaft hat einen Shop belegt. Und ohne Event-Kalender geht gar nichts: Tag der Vereine, Ferienaktionen, Herbstmarkt mit Tombola für einen guten Zweck. Voriges Jahr kamen dabei 5 000 Euro für die Spielplätze in Bergen-Enkheim zusammen.
„Bergen-er lesen, Enkheimer auch!“
Auch Marktstraße und Triebstraße, früher Einkaufsmeilen, wandeln sich. Eine feste Größe ist die Buchhandlung „Bergen erlesen“ im Stadthallenkomplex. Als Anna Doepfner im April 2016 den Laden wiederöffnete, gab ein Kunde das Wortspiel zurück: „Bergen-er lesen, Enkheimer auch!“ Das Geschäft läuft mit Non-Book-Angebot und treuer Stammkundschaft – wegen des Literaturpreises, aber nicht nur.
Corona habe inhabergeführten Läden starke Jahre gebracht, sagt Doepfner. Zweimal wurde sie mit dem Deutschen Buchhandlungspreis ausgezeichnet, führt in Sachsenhausen einen zweiten Laden und gründete 2020 einen Verlag. Pünktlich zum Fest erscheint der neueste Band „Stadtschreiberei“. Die Edition mit dem Schlüssel auf dem Cover enthält Texte und Interviews von Stadtschreibern und Festrednern. Denn diese sind ebenfalls prominent. Die Schriftstellerin Manja Präkels soll diesmal die Festrede halten.
Info
Führungen in und um Bergen: Unsere Autorin Annette Friauf führt durch den alten Ortskern von Bergen mit Besichtigung des Weißen Turms, durchs Enkheimer Ried, die Streuobstwiesen am Berger Hang und auf die Hohe Straße. Weitere Infos finden Sie hier.
Heute wirkt die Mainmetropole hier, an ihrem nordöstlichsten Zipfel, so richtig hessisch. Auf dem Berger Rücken geht das Großstadtgefühl in Landlust über, das entschleunigt so manchen Stadtmüden. Südlich weiter unten fließt der Main, östlich dämmert der Spessart, nördlich duckt sich der Bad Vilbeler Wald vor der Wetterau. Und geradeaus? Nix als Horizont. Und Grillenzirpen, wenn nicht gerade Rushhour ist.
Irgendwo hier muss es liegen, das von Matthias Keller gehütete „Musikschutzgebiet Wald“. So heißt sein neues Soloprojekt. Die Single „Angstherzen“ ist gerade raus – „leicht bewölkter Pop“, deutschsprachig, angelehnt an den 80er New Wave Sound. Das Mitglied der legendären A-cappella-Gruppe U-Bahn-Kontrollöre in tiefgefrorenen Frauenkleidern – Markenzeichen: 1,91 Meter groß, mit hochgesträhnter Frisur noch größer – lebt seit 2008 in Bergen-Enkheim.
Seine Tochter war unterwegs. Wie andere Väter schloss er sich dem Stammtisch „MEN in Bergen“ an und lebte sich ein. Die Nähe zur Natur sei wichtig für eine „kreative Allzweckwaffe“ wie ihn. Keller macht nicht nur Musik, er liest Hörbücher ein und tritt in der Live-Kult-Hörspielreihe „Die drei ???“ auf, ist Stationvoice bei hr1. Erstmals darf der 54-Jährige am Freitag, 30. August, das Stadtschreiberfest moderieren.
Die Kulturgesellschaft hat ihn engagiert. „Ich fühle mich gut besetzt“, sagt Keller. Er sieht sich als Entertainer. Unser David Bowie heißt Heinz Schenk. Traditionell findet die Zeremonie im Festzelt des Berger Marktes statt. Feuilleton und Frischgezapftes – das passt, so liebt das Stammpublikum das.
Blickachsen durch Streuobstwiesen auf die Skyline haben zwei Generationen von Stadtschreibern immer wieder beflügelt. Wilhelm Genazino, Preisträger von 1996/97, war kein Landschaftspoet. „Aber hier könnte ich mit Üben anfangen“, fand er. Fünfzig Namensschilder aus dem Who is Who der Literaturszene hängen am schlichten Stadtschreiberhaus An der Oberpforte 4 – von Pionier Wolfgang Koeppen über die spätere Nobelpreisträgerin Herta Müller bis hin zu Nino Haratischwili im Jubiläumsjahr.
Sie übergibt den Schlüssel an ihren Nachfolger Dinçer Güçyeter. Mit dem bekennden Nicht-Akademiker geht der Literaturzirkus in die 51. Runde. 1974 war der Preis der erste seiner Art im deutschsprachigen Raum. Der Bergen-Enkheimer Franz Joseph Schneider, Mitglied der „Gruppe 47“ und Freund von Heinrich Böll, hatte ihn in der damals noch eigenständigen Kleinstadt auf den Weg gebracht. Der Preis beinhaltet 20 000 Euro und ein Jahr Wohnrecht im Stadtschreiberhaus. Eine Residenzpflicht existiert nicht, aber das Versprechen, Menschen mit Literatur zu berühren.
Das Stadtschreiberhaus © Dirk Ostermeier
Bergen-Enkheim und Bücher, das hat eine lange Tradition. Die Ortssage „Schelm von Bergen“ ging um die halbe Welt. Mark Twain entdeckte sie auf seiner Deutschlandreise und veröffentlichte „The Knave of Bergen“ in den USA. Auch Heinrich Heine schrieb eine Schelm-Version. Aus der Feder des Heimatdichters Conrad Weil wiederum wird die Story alle vier Jahre lebendig. Die Schelmenburg bietet die passende Kulisse dazu.
Nach der Ortshistorie waren die Schelme einfache Rittersleut'. Zunächst bauten sie eine Holzburg und um 1700 das barocke Wasserschlösschen, heute ein Wahrzeichen des Stadtteils. Hinterlassen haben sie ein Wappen mit zwei roten Bögen – blutige Rippen. So weit die Fakten. In der Fiktion ist der Schelm ein Scharfrichter, der als Ritter verkleidet die Frechheit besitzt, mit der Kaiserin zu tanzen. Als der Schwindel auffliegt, droht ihm das Todesurteil. Freilich gibt’s ein Happy End: Der Kaiser kennt Gnade und schlägt ihn zum Edelmann.
Frank Fella (59) ist Vorsitzender der Förder- und Trägergruppe Schelmenspiel. Der Verwaltungsbeamte liebt das Spektakel. Gecastet als „großer Kerl mit lauter Stimme“, ist er seit 2005 in fast jede Hosenrolle geschlüpft. Voriges Jahr hatte Fella endlich die Krone auf. „Der Kaiser ist schon eine coole Nummer“, sagt er. Aber unter 50 Laien, die jedes Mal aufs Neue ein Ensemble bilden, seien alle wichtig. Sie proben monatelang und wuppen vier Aufführungen.
Dank der Magie des Theaters haben die Spieler keine Nachwuchssorgen. Fella, 59, ist der Nestor im Vorstand mit lauter Jungen. „Der Schelm ist ein Stück Bergen-Enkheim“, betont der gebürtige Seckbacher. Derzeit berate man über Spin-offs. Die Spannung steigt, ob die Sage vom Schelm das Zeug zur Saga hat.
Heimatkunde: Bergen liegt auf dem Berg, Enkheim im Tal. Der Doppelort gehörte zur Grafschaft Hanau. Die Grafen wollten der Reichsstadt Frankfurt klare Kante zeigen. Um 1500 sicherten sie Bergen mit einer Ringmauer mit Tor- und Helmtürmen sowie Rondellen. Zwischen evangelischer Kirche und dem Hotel Zur Schönen Aussicht sieht man ein Teil rekonstruiert. Als letzter Backenzahn steht noch original der Weiße Turm in der Straße Am Weißen Turm.
Im Verlies soll so mancher Gefangene gehockt haben, bis am Galgen nahe der Berger Warte seine letzte Stunde schlug. Heimatkunde für Fortgeschrittene: Die Warte steht auf Seckbacher Grund. Der Volksmund sagt: „Der Berjer geht zum Dienst, der Enkemer uff die Arbeit.“ Was daher rührt, dass Bergen Verwaltungssitz war und Enkheim Fabriken hatte. Wo die Marktstraße sich quetschen muss, steht das Alte Rathaus, eine Fachwerkperle der Spätrenaissance, Sitz des Heimatmuseums. Seit bald zehn Jahren ist es eingerüstet. Die Denkmalsanierung zieht sich – ein hoher Nervfaktor für Anwohner und die umliegende Gastronomie.
Italienisch, griechisch, indisch, Bierkneipen: Die Marktstraße, in der einst durchziehende Händler zechten, ist noch immer Gastro-Meile. In der Alten Post serviert Kult-Wirtin Dragi Apfelweinküche. Bis etwa 1900 übrigens wurde an den steilen Lagen des Berger Hangs großflächig Wein angebaut. Streuobst hat die Wingerte ersetzt. Vor genau 500 Jahren ließen die Mönche von Haina die Nikolauskapelle errichten. Das Gebäude mit seinen hübschen spätgotischen Fenstern ist Veranstaltungsort und Trausaal.
Der perfekte Tag, wie sieht er aus? Im Sommer ab ins Freibad mit weiten Liegewiesen unter alten Bäumen nahe dem Naturschutzgebiet Enkheimer Ried. 2023 wurde es saniert. Die Edelstahlbecken mit Wasserrutsche und Whirl versprühen Urlaubsfeeling. Danach auf einen Cappuccino zur Kuchenfee unten in der Triebstraße oder oben in die Eisdiele oder ins Schätze Bergn Café mit Ambiente-Store.
Freibad in Bergen-Enkheim © Dirk Ostermeier
Abends dann ab in den Sitzsack, falls gerade Open Air Festival ist. Veranstalter ist BENG, kurz für Bergen-Enkheimer Nachbarschaftsgedöns. Die freie Initiative möchte „ohne Umwege“ Kultur-Events schaffen, um den Stadtteil zu beleben und die Kommunikation zu fördern, sagt Mitgründer Christoph Stübbe. Kino, Musik und Poetry Slam, das stemmt BENG seit 2021 mit dem Jugendhaus. Die Filme kommen vom kinoSommer Hessen, Mittel über den Ortsbeirat. BENG ist ein Kind der Pandemie, aber nicht passé. Im Dezember will die Initiative wieder einen Lebendigen Adventskalender veranstalten.
Derweil meldet sich die städtische Kulturgesellschaft aus der Versenkung zurück. Laut Grenzänderungsvertrag, den Bergen-Enkheim 1977 mit Frankfurt schloss, soll sie kulturelles Leben im Stadtteil garantieren – ein Sonderrecht. Wegen Personalquerelen war jahrelang Stillstand. Der neue Geschäftsführer Mark Gläser versucht nun, den Laden wieder flott zu machen. Er organisiert die Stadtschreiber-Lesungen und das Volksfest Berger Markt.
Denn Tradition wird im „Gallischen Dorf“ großgeschrieben. Dieses Jahr gibt es viele Jubiläen: TV Bergen feiert 150, Obst- und Gartenbauverein 125, Freiwillige Feuerwehr Bergen 100 Jahre Bestehen. Seit 47 Jahren krönt Bergen-Enkheim seine eigene Apfelweinkönigin. Die neue heißt Marie Sophie Eibl, 28 Jahre jung, Ur-Enkheimerin. Zum Vereinsleben kommen Gemeindeaktivitäten rund um vier Kirchen.
Wegen der Lage und der Vereine ist der Stadtteil bei jungen Familien beliebt. Und noch viele werden ins Neubaugebiet Riedbogen an der Leuchte ziehen. Aktuell indes hat Bergen-Enkheim mit gut 45 Jahren den höchsten Altersdurchschnitt der Stadt. Zum Vergleich: Im halb so großen Kalbach-Riedberg sind die Menschen im Schnitt 37 Jahre alt. Über sowas macht sich Kim Nielsen Gedanken.
Der 21-jährige Informatikstudent sitzt seit zwei Jahren für die SPD im Ortsbeirat. Er ist der jüngste im „16er“. Überalterung, sehr hohe Wohnkosten, kein Nachtleben, „dazu noch die relative Abgeschiedenheit“. Kim Nielsen fragt sich: „Was hält einen jungen Menschen nach dem Schulabschluss hier?“ Die Wege mit Bus und U-Bahn seien zeitfressend und unzuverlässig. „Für eine Mobilitätswende reicht das Angebot nicht aus,“ beklagt Nielsen.
Das Thema ist hochaktuell, seit Stadt und RMV im April Ideen für eine Variante der Regionaltangente Ost vorstellten. Im Saal der Stadthalle schlugen die Wellen hoch. Viele Anwesende bangten um Sportstätten, Erholungsgebiete, letztlich um Wohlstand und Existenz. Populistische Flugblätter folgten. Seither wird engagiert über alte und neue Trassen diskutiert, auch die Idee für eine Seilbahn ist wieder da. Kim Nielsen sieht es differenziert: „Ich finde gut, dass man überhaupt daran denkt, Bergen-Enkheim besser an die Schiene anzuschließen.“ So sei es doch bei der Eingemeindung versprochen worden.
Mut zum Wandel, das braucht auch Burcu Cekirdek. Die 27-jährige Hamburgerin ist seit zwei Jahren Managerin des Hessen-Centers (HC). Aktuell stehen von 115 Geschäften knapp 20 Ladenflächen leer. Die Schließung des Kaufhofs, Umbau, Lockdowns, Insolvenzen von Modeketten – all das hat Löcher gerissen. „Oberste Maxime ist jetzt, dass die Kundschaft treu bleibt“, sagt Cekirdek. Das 1971 eröffnete Center war das erste in Frankfurt nach dem MTZ auf der grünen Wiese. Der Verkauf des verkehrsgünstig gelegenen Areals brachte Bergen-Enkheim einen Batzen Geld. Viele Kunden kennen das HC von Kindheit an, Einzelbetreiber halten am Standort fest.
Die Boutique „Corny's“ etwa feiert 40. Jubiläum. Das freut die Managerin: „Trotz der Leerstände haben wir eine Stabilität.“ Drei große Filialisten mit zwei Buchstaben sind noch da. Kunden finden Fashion-Marken, dazu Dinge des täglichen Bedarfs. Dazwischen gibt es kreativ beklebte Schaufenster, Selfie-Lounges und Pop-up-Läden. „Es hat keinen Sinn, den Leerstand zu kaschieren“, sagt Cekirdek. Maxime sei, Verweilorte bieten, andere Zielgruppen anzuziehen.
Das möchte das HC gemeinsam mit örtlichen Akteuren erreichen. Die Stadtteilbibliothek will einziehen, die Kulturgesellschaft hat einen Shop belegt. Und ohne Event-Kalender geht gar nichts: Tag der Vereine, Ferienaktionen, Herbstmarkt mit Tombola für einen guten Zweck. Voriges Jahr kamen dabei 5 000 Euro für die Spielplätze in Bergen-Enkheim zusammen.
Auch Marktstraße und Triebstraße, früher Einkaufsmeilen, wandeln sich. Eine feste Größe ist die Buchhandlung „Bergen erlesen“ im Stadthallenkomplex. Als Anna Doepfner im April 2016 den Laden wiederöffnete, gab ein Kunde das Wortspiel zurück: „Bergen-er lesen, Enkheimer auch!“ Das Geschäft läuft mit Non-Book-Angebot und treuer Stammkundschaft – wegen des Literaturpreises, aber nicht nur.
Corona habe inhabergeführten Läden starke Jahre gebracht, sagt Doepfner. Zweimal wurde sie mit dem Deutschen Buchhandlungspreis ausgezeichnet, führt in Sachsenhausen einen zweiten Laden und gründete 2020 einen Verlag. Pünktlich zum Fest erscheint der neueste Band „Stadtschreiberei“. Die Edition mit dem Schlüssel auf dem Cover enthält Texte und Interviews von Stadtschreibern und Festrednern. Denn diese sind ebenfalls prominent. Die Schriftstellerin Manja Präkels soll diesmal die Festrede halten.
Führungen in und um Bergen: Unsere Autorin Annette Friauf führt durch den alten Ortskern von Bergen mit Besichtigung des Weißen Turms, durchs Enkheimer Ried, die Streuobstwiesen am Berger Hang und auf die Hohe Straße. Weitere Infos finden Sie hier.
18. September 2024, 12.22 Uhr
Annette Friauf
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29. November 2024
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