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Wahl in Thüringen

Mike Josef: „Wir dürfen Anti-Demokraten nicht an demokratische Strukturen lassen“

Am Mittwoch wurde der FDP-Politiker Thomas Kemmerich zum Thüringer Ministerpräsidenten gewählt. Möglich wurde dies erst durch die Unterstützung der AfD. Das JOURNAL FRANKFURT hat mit Mike Josef, Vorsitzender der Frankfurter SPD, über das Wahlergebnis gesprochen.
Zum Hintergrund: Vollkommen überraschend wurde am Mittwoch der FDP-Politiker Thomas Kemmerich in Thüringen zum Ministerpräsidenten gewählt. Bei der Landtagswahl im vergangenen Oktober hatte es die FDP mit nur 5 Prozent denkbar knapp in den Landtag geschafft. Die gestrige Wahl Kemmerichs zum Ministerpräsidenten hat eine Welle der Empörung ausgelöst, da sich Kemmerich nicht nur durch die CDU, sondern auch durch die AfD unterstützen ließ. Auch die CDU gerät unter Druck. Bundesweit gab es noch am Wahlabend Proteste und Kundgebungen gegen die Wahl Kemmerichs. Auch in Frankfurt versammelten sich Hunderte Menschen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat heute von einem „unverzeihlichen Vorgang“ gesprochen. Die Wahl Kemmerichs müsse rückgängig gemacht werden.

JOURNAL FRANKFURT: Herr Josef, was war Ihr erster Gedanke, als Sie gestern das Wahlergebnis in Thüringen erfahren haben?
Mike Josef: Im ersten Moment war ich vor allem ungläubig, einfach nur fassungslos. Die AfD in Thüringen ist nicht irgendeine AfD – das ist die Höcke-AfD. Wir sprechen hier über die AfD eines Mannes, der rechtmäßig als Faschist bezeichnet werden darf, weil er Dinge sagt wie das Holocaust-Denkmal in Berlin sei ein „Denkmal der Schande“ oder es stehe der „Volkstod durch den Bevölkerungsaustausch“ bevor. Ich bin sprachlos angesichts dieses Wahlergebnisses. Und ich glaube nicht an einen Zufall, dafür ist das Ergebnis zu eindeutig ausgefallen. Hier wurde ein Tabubruch vollzogen, auch seitens der CDU, die sich ebenfalls zu einem Spielball der AfD hat machen lassen.

Erwarten Sie einen Rücktritt Thomas Kemmerichs?
Wer durch die Stimmen der AfD und Björn Höckes gewählt wird, darf die Wahl gar nicht erst annehmen. Diese Wahl markiert einen Wendepunkt: Wer sich einmal von der AfD wählen lässt, macht das wieder. Das Motiv von FDP und CDU für diese Taktik ist unterirdisch und nicht zu verzeihen. Es ging nie darum, zu gestalten, es sollte Rot-Rot-Grün verhindert werden. Es muss Neuwahlen geben und sämtliche Parteien sind gefordert, dafür einzustehen. Wer gerade mal die Fünf-Prozent-Hürde schafft und sich dann von Gnaden Björn Höckes zum Ministerpräsidenten wählen lässt, kann einem Land nichts Gutes bringen.

Wie muss die Politik, auch auf Bundesebene, nun reagieren?
Gerade die Bundes-CDU ist gefordert, eine klare Haltung zu zeigen. Es muss eine klare Linie gegenüber den Verantwortlichen in Thüringen geben. Es ist die Aufgabe der Kanzlerin, sich dazu zu äußern und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu wahren (Anm. d. Red.: Bundeskanzlerin Merkel hat sich kurz nach diesem Interview geäußert. Sie sprach von einem „unverzeihlichen Vorgang". Die Wahl Kemmerichs müsse rückgängig gemacht werden.) Und es ist die Aufgabe der CDU, Haltung zu zeigen. Diese Menschen, die gestern die Wahl entschieden haben, sind die gleichen Menschen, die die Kanzlerin auf offener Straße beschimpft haben, auf eine Weise, die unerträglich ist. Sie wurde beschimpft aufgrund ihrer Haltung in den vergangenen Jahren für Migration und Integration. Mit diesen Menschen hat die CDU in Thüringen einen Pakt geschlossen – und sie muss sich fragen, wo sie am Ende des Tages steht. Die CDU hat ihr Verhältnis zu Höcke und seiner AfD offenkundig nicht abschließend geklärt.

Was bedeutet dieses Ergebnis über Thüringen hinaus für unsere Demokratie?
Diese Wahl ist ein Angriff auf alle Menschen, die einen anderen kulturellen Hintergrund haben, an etwas anderes glauben, sie ist ein Angriff auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserem Land. Diese Wahl betrifft nicht nur Thüringen, sie betrifft unsere Gesellschaft. Die Höcke-AfD lehnt Menschen wie mich und Millionen andere Menschen, die unser Land, unsere Städte und Gemeinden bereichern, ab. Es muss Neuwahlen geben, Thomas Kemmerich muss als Ministerpräsident zurücktreten und es muss eine eindeutige Distanzierung von Bundes-FDP und -CDU geben. Ich finde es bezeichnend, dass Annegret Kramp-Karrenbauer gesagt hat, sie habe Christian Lindner vor diesem Schritt gewarnt. Das lässt darauf schließen, dass alle Beteiligten wussten, was in Thüringen vor sich geht. Wir müssen uns bewusstmachen, dass diese Wahl eine Zäsur darstellt – auch, wenn es Neuwahlen geben sollte: Diejenigen, dich sich hier beteiligt haben, haben sich schuldig gemacht, die Höcke-AfD gestärkt zu haben. Die gleichen Menschen, die noch vor wenigen Tagen 75 Jahre Auschwitz gedacht haben und „Nie wieder!“ gerufen haben, haben sich gestern von den Menschen wählen lassen, die den Holocaust relativieren. Das ist ein ungeheuerlicher Vorgang. Jetzt muss es erst recht heißen: Kein Fußbreit für Faschisten!

Thomas Kemmerich hat SPD und Grünen Gespräche angeboten. Wie sollen die Parteien damit umgehen?
Ganz klar: Man kooperiert nicht mit Menschen, die sich von Björn Höcke wählen lassen. Ich kann nur für die SPD sprechen: Die Sozialdemokraten wurden unter Hitler verfolgt, eingesperrt und ermordet. Es kommt nicht infrage, dass die SPD mit der AfD zusammenarbeitet. Das Gesprächsangebot ist absolut heuchlerisch. SPD und Grüne sollen in die Verantwortung genommen werden, während kurz zuvor noch eine rot-rot-grüne Regierung abgelehnt wurde.

Die hessische FDP hat unmittelbar nach der Wahl eine Stellungnahme veröffentlicht, in der sie Thomas Kemmerich als „Kandidaten der Mitte“, „aufrichtigen Demokraten“ und die FDP als „schärfsten Gegenwind zur AfD“ bezeichnen. Wie stehen Sie dazu?
Ich kann nur wiederholen, was der ehemalige FDP-Bundesinnenminister Gerhart Baum gesagt hat: „Die Leute sind doch nicht ganz bei Trost“. Die Stellungnahme der Hessen-FDP zeigt, dass diese Partei den Schlag nicht gehört hat. Gestern wurde ein Sündenfall vollzogen. Es ging bei dieser Wahl nicht darum wen man wählt, sondern mit wem man wählt. Und man macht eben keine gemeinsame Sache mit Antisemiten und Faschisten. Die Thüringer FDP hat alles falsch gemacht, was man nur falsch machen kann. Die Geschichte hat mehr als deutlich gezeigt, dass sich Parteien wie die AfD nicht von heute auf morgen etablieren. Das findet schrittweise statt. Thüringen war das erste Bundesland, in dem auch die NSDAP stark wurde. Dass die FDP aus dieser Geschichte nicht gelernt hat, macht das Ganze noch tragischer. Die FDP hat sich ja nicht nur durch die Stimmen der AfD wählen lassen, sie haben noch am gleichen Tag mit ebendiesen Stimmen eine Abstimmung vollzogen, um die Sitzung des Landtages verschieben zu lassen. Die Zusammenarbeit geschieht bereits. Die FDP kann ohne die AfD nicht regieren; sie hat sich zum Steigbügelhalter der AfD machen lassen. Da lösen solche Erklärungen nur Hohn und Spott aus.

Susanne Hennig-Wellsow, die Thüringer Landeschefin der Linken, hat Thomas Kemmerich gestern einen Blumenstrauß vor die Füße geworfen. Was halten Sie von dieser Reaktion?
Ich ziehe meinen Hut vor Susanne Hennig-Wellsow, das war die einzig richtige Reaktion. Die Konservativen werden immer sehr formell, wenn es um ihre eigene Macht geht. Dann alles erlaubt und richtig, was in der Verfassung steht. Sobald es aber um andere geht, werden sie schnell moralisch. Ich möchte daran erinnern, dass auch die NSDAP mit den demokratischen Möglichkeiten der damaligen Verfassung an die Macht gekommen ist. Die Debatte, die wir seit langem führen, ist doch: Ist das, was mit den rechtsstaatlichen Werkzeugen möglich ist, auch moralisch vertretbar? Die gestrige Wahl in Thüringen ist es nicht – und deshalb war diese Reaktion der Linken-Landeschefin die richtige.

Gestern Abend gab es in zahlreichen deutschen Städten, auch in Frankfurt, Kundgebungen und Proteste gegen die Wahl Thomas Kemmerichs. Wie muss die Allgemeinbevölkerung mittel- und langfristig reagieren?
Wir dürfen das Wahlergebnis auf keinen Fall kleinreden und zur Tagesordnung übergehen, weil ich glaube, dass das Kalkül war. Es gibt einzelne Stimmen, die sagen, das alles sei ja nicht der Rede wert. Aber rechte Parteien, faschistische Parteien funktionieren immer vor dem Hintergrund, dass man sie kleinredet und unterschätzt. Diese Zeit des Kleinredens ist vorbei. das war sie eigentlich vorher schon, das zeigen sämtliche Wahlergebnisse der vergangenen Monate zu Genüge. Wir müssen deutlich machen, dass eine solche Vorgehensweise wie in Thüringen nicht geduldet wird. Die Geschichte darf sich nie wieder widerholen. So groß die Frustration gegenüber den etablierten Parteien auch ist, und wir machen mit Sicherheit nicht alles richtig, wir dürfen Anti-Demokraten nicht an demokratische Strukturen lassen. Es gilt aus der Geschichte zu lernen. Wenn Faschisten regieren, ist das Ergebnis immer fatal. Sie mögen sagen, dass sie die Fehler der etablierten Parteien korrigieren wollen – aber am Ende folgen immer und ausschließlich Krieg, Elend, Zerstörung. Solche Kräfte kleinzureden, führt nur dazu, dass sie gestärkt auftreten. Die Zeitzeugen sterben und es wird immer einfacher für faschistische Kräfte, die Geschichte zu relativieren oder zu leugnen. Dies zu verhindern, die Erinnerung wachzuhalten und aktiv dagegen vorzugehen, ist unsere große Herausforderung als Gesellschaft. Ob auf der Straße, in den Schulen oder in den Parlamenten: Wir müssen deutlich machen, dass wir eine Stärkung des Faschismus nicht zulassen, deshalb muss die Wahl des Ministerpräsidenten in Thüringen rückgängig gemacht werden.
 
Fotogalerie:
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6. Februar 2020, 12.01 Uhr
Ronja Merkel
 
Ronja Merkel
Jahrgang 1989, Kunsthistorikerin, von Mai 2014 bis Oktober 2015 leitende Kunstredakteurin des JOURNAL FRANKFURT, von September 2018 bis Juni 2021 Chefredakteurin. – Mehr von Ronja Merkel >>
 
 
 
 
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