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Jom Kippur: Gastbeitrag

In die gleiche Kerbe

Vor einem Jahr verübte ein Rechtsextremist an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, einen Anschlag auf die Synagoge von Halle. Das Attentat löste auch Kritik an der Polizei aus. Und zeigte: Wo die Sorgen von Minderheiten verharmlost werden, wird es schnell gefährlich. Ein Gastbeitrag von Laura Cazés.
Die brutale Ermordung des Amerikaners George Floyd im Mai dieses Jahres hat weltweit eine Debatte um strukturellen Rassismus in der Polizei ausgelöst. Auch in Deutschland stieß diese schreckliche Tat eine Diskussion über ein mögliches Rassismusproblem in den hiesigen staatlichen Institutionen für Sicherheit und Verteidigung an. Immer wieder hörte man Vertreterinnen und Vertreter von Polizei, Politik und Staatsschutz in die Defensive rücken und betonen, man könne die Situation in Deutschland nicht mit der in den Vereinigten Staaten vergleichen. Korrekt, Deutschland hat seine ganz eigenen Probleme, die viel zu lange nicht als solche anerkannt wurden.

Für Jüdinnen und Juden in Deutschland ist die Diskussion um die Polizei eine schwierige. Denn viele jüdische Einrichtungen werden hierzulande von der Polizei geschützt. Gleichzeitig wissen sie: Wo die Perspektiven von Minderheiten missachtet und ihre Sorgen verharmlost werden, wird es schnell gefährlich. Das Attentat auf die Synagoge in Halle im vergangenen Jahr hat die immerwährenden Befürchtungen der jüdischen Gemeinschaft bestätigt: dass auch ihre Sorgen mancherorts erst dann ernst genommen werden, wenn es zu spät ist. Der aktuelle Skandal um ein mögliches rechtsradikales Netzwerk in der hessischen Polizei ist nur ein weiteres Beispiel für eine institutionalisierte Ignoranz gegenüber rechtsextremen Strukturen, die sich im ersten Schritt gegen betroffene Minderheiten richten, im nächsten jedoch zur Gefahr für die gesamte Gesellschaft werden.

Für den Ernstfall

Ich weiß seit meiner Kindheit, dass Sicherheit für mich nicht das Gleiche bedeutet wie für die meisten anderen Menschen, die in diesem Land leben. Ich bin in zwei großen jüdischen Gemeinden aufgewachsen – das bedeutet: Ich habe im Alter von drei Jahren verstanden, dass der Kindergarten, den ich besuche, in einem besonders sicheren Haus sein muss. Im Alter von sieben Jahren habe ich verstanden, dass ich in Ruhe Mathe lernen kann, wenn ich den Sicherheitsleuten und Polizeieinsatzkräften am Schuleingang täglich guten Morgen sage. Und mit neun Jahren wusste ich, dass die regelmäßige Terroralarm-Übung, die wir – wie den Feueralarm – immer wieder absolvierten, nie bloß ein Spiel, sondern für einen Ernstfall gedacht war, von dem wir alle wussten, dass er eintreten kann.

Als ich vergangenes Jahr nach dem Mittagsgebet des höchsten jüdischen Feiertags Jom Kippur vor die Synagoge im Frankfurter Westend trat, brauchte ich nicht mein Handy dabei zu haben, um zu wissen, dass etwas passiert war. Ich sah es an der Haltung der Sicherheitsleute, ich sah es daran, dass der Polizeiwagen an der Ecke stand und die Einsatzkräfte vor der Tür. Ich wurde mein Leben lang auf den Ernstfall vorbereitet. Für keine jüdische Person in Deutschland war der Terroranschlag auf die Synagoge in Halle eine Überraschung. Gleichzeitig hatte ich nie das Gefühl, isoliert aufgewachsen zu sein. Das klingt für die meisten Menschen, mit denen ich darüber spreche, völlig paradox. Der Zustand irritiert. Wie kann man in einem Hochsicherheitstrakt einen Teil seiner frühkindlichen Sozialisierung erfahren und sich trotzdem als Teil der Gesellschaft fühlen?

Vielleicht lässt es sich so erklären: Was sich innerhalb einer jüdischen Gemeinde abspielt, fühlt sich weder nach Abschottung noch nach Gefängnis an. Wir sind geschützt, aber nicht geschlossen. Und es brauchte eben auch einen besonders geschützten Raum, damit überhaupt so etwas wie jüdisches Selbstverständnis in Deutschland nach 1945 wieder entstehen konnte. Klar ist jedoch auch: Die Präsenz hoher Sicherheitsvorkehrungen macht auch etwas mit der Außenwahrnehmung der jüdischen Gemeinde. Nicht selten wird dieser Umstand in das antisemitische Narrativ der „privilegierten Minderheit“ eingefügt. „Die jüdische Gemeinschaft immer mit ihren Sicherheitsvorkehrungen, als wäre sie etwas Besonderes“, hört man in Zwischentönen häufig.

„Antisemitismus kommt niemals allein“

Ob jedoch die Polizei vor der Synagoge steht oder nicht, hängt nicht davon ab, ob die Gemeinde das so will, sondern ob das zuständige Landeskriminalamt die Gefahrenlage der jeweiligen Einrichtung entsprechend einschätzt. Für jede weitere Sicherheitsvorkehrung müssen die Gemeinden mit ihrem Etat selbst aufkommen. Während größeren jüdischen Gemeinden wie Frankfurt aufgrund ihrer verhältnismäßig hohen Mitgliederzahl Mittel für umfangreichere Sicherheitskonzepte zur Verfügung stehen, sind kleinere Gemeinden häufig auf sich allein gestellt und von staatlichen Behörden abhängig.

Wer nicht glaubt, dass jüdische Gemeinden gefährdete Räume sind und die Schutzmaßnahmen für übertrieben hält, dem sei das Buch des Juristen und Journalisten Ronen Steinke „Terror gegen Juden“ empfohlen. Er bettet das individuelle Empfinden und die alltäglichen Erfahrungen von Jüdinnen und Juden in den skandalösen Kontext ein, dass es auch seit 1945 immer Gewalt gegen Jüdinnen und Juden in Deutschland gegeben hat. Steinke seziert in seiner Anklageschrift einen chronischen Zustand in diesem Land, dessen leise Normalisierung die eigentliche Schande ist: dass Jüdinnen und Juden gelernt haben, mit dieser Gefahr zu leben. Das Panzerglas wurde nicht von der jüdischen Gemeinschaft bestellt, um es der Mehrheitsgesellschaft provozierend unter die Nase zu reiben. Nicht die lebenden Jüdinnen und Juden sind das Mahnmal für die Geschichte der Vernichtung durch die Nazis – sondern all das, was notwendig ist, damit jüdisches Leben in Deutschland überhaupt existieren kann.

Im Fall von Halle wurde durch die zuständige Behörde keine akute Gefahrenlage festgestellt. Die Revierleiterin gab im Untersuchungsausschuss zu Protokoll: sie wusste nichts von Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag. Am 9. Oktober 2019 rettete nicht die Polizei den Betenden in der Synagoge das Leben, sondern ein ehrenamtlicher Sicherheitsmann und eine Holztür, deren Sanierung kurz zuvor von einer Stiftung übernommen worden war. Als dem Attentäter der Zutritt in die Synagoge nicht gelang, erschoss er eine Passantin und visierte als nächstes Ziel einen Dönerladen an, in dem er eine weitere Person tötete, die er fälschlicherweise für einen Muslim hielt. Antisemitismus kommt niemals allein.

„Einzeltäter“

Während der Prozess gegen den rechtsextremen Terroristen am 21. Juli 2020 in Magdeburg begonnen hat, gelangen die Ausmaße des Skandals um die hessische Polizei und die Verstrickungen des sogenannten NSU 2.0-Netzwerks immer weiter an die Oberfläche. Seit 2018 erhalten zahlreiche Personen regelmäßig Gewalt- und Morddrohungen. Meist sind die Betroffenen Frauen, viele von ihnen haben einen Migrationshintergrund und/oder sind politisch links verortet. Und alle sprechen sich sich öffentlich gegen Rechtextremismus aus. Im Fall der Frankfurter Anwältin der Angehörigen der NSU-Mordserie Seda Basay-Yildiz, der Kabarettistin Idil Baydar und der hessischen Linken-Vorsitzenden Janine Wissler stellte sich heraus, dass die nicht öffentlich bekannten persönlichen Daten, die in den Drohschreiben Erwähnung fanden, von Computern der Polizei in Frankfurt und Wiesbaden abgerufen worden waren. In einigen dieser Schreiben, die mit dem Absender „NSU 2.0“ unterzeichnet wurden, werden weitere Anschläge wie in Kassel, Halle und Hanau angedroht. Vermutlich ist das nur die Spitze des Eisbergs.

Betroffene scheinen die zuständigen Sicherheitsbehörden in langwieriger Überzeugungsarbeit zu einer Einschätzung der Gefahrenlage zu bringen, um dann Monate, in manchen Fällen sogar Jahre auf die Umsetzung entsprechender Sicherheitsmaßnahmen zu warten. Für das Resultat dieser Fahrlässigkeit – oder sollte es vielleicht schlichtweg Ignoranz genannt werden – ist Halle nur einer von vielen schrecklichen Belegen. Nur einen Tag nach der Tat bezeichnete Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) den Hallenser Attentäter als „Einzeltäter im juristischen Sinne“.

Modus des Wegschauens

Die Nebenklägerinnen und -kläger von Halle – unter ihnen viele, die sich zum Tatzeitpunkt selbst in der Synagoge oder im Kiezdöner aufhielten – fordern in ihrem zu Prozessbeginn veröffentlichten Schreiben, dass die Verhandlung dazu genutzt werden müsse, mit dem Mythos des „isolierten Einzeltäters“ aufzuräumen. Um sich innerhalb einer rechtsextremen Ideologie zu radikalisieren, braucht es schon lange keine Offline-Räume mehr. Rechtsextremismus-Forschende weisen immer wieder auf die Parallelen und Zusammenhänge der Anschläge im Münchner Olympia-Einkaufszentrum, in Oslo, Christchurch, Halle, Hanau und im Fall des Lübcke-Mordes hin, die Liste könnte allerdings noch lange fortgesetzt werden. So wie es Deutschland nie ohne Rassismus gegeben hat, so bezeugen die Gewalttaten gegen Jüdinnen und Juden die Kontinuität eines auch nach 1945 existierenden Antisemitismus.

Wenn sich die Sichtbarkeit eines internationalen rechtsterroristischen Netzwerkes und seines antisemitischen, rassistischen und frauenverachtenden verschwörungsideologischen Fundaments immer weiter Bahn bricht – wie lange sollen diejenigen, die sich weltweit als Teil dieses Netzwerkes verstehen und tödliche Gewalt verüben, noch als „Einzeltäter“ bezeichnet werden? Die Abwesenheit der Polizei in Halle vollzieht sich im selben Modus des Wegschauens, sie schlägt in die gleiche Kerbe, in dem das institutionelle Versagen deutscher Sicherheitsbehörden schlichtweg toleriert wird. Mir ist nicht wohler dabei, dass jüdische Einrichtungen an der Polizei vor der Tür erkannt werden, wenn eben diese ihre sich nun großflächig offenbarende strukturelle Problematik nicht in den Griff bekommt. Wichtig ist jedoch auch: Eine gesamtgesellschaftliche Ignoranz gegenüber den Sorgen von Minderheiten bildet die Tragfläche für institutionelle blinde Flecken. Und deshalb reichen den Betroffenen keine bloßen Mitleidsbekundungen. Diese Strukturen müssen endlich aufgebrochen werden, sowohl in der Zivilgesellschaft als auch in den staatlichen Institutionen. Wir können die Ignoranz nicht weiter dulden. Denn sie gefährdet alle, die an ein gerechtes, freiheitlich-demokratisches und diskriminierungsfreies Zusammenleben glauben.

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Laura Cazés ist Referentin für Verbandsentwicklung der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Von 2017 bis 2019 war sie Vizepräsidentin der European Union of Jewish Students. Ihre Kernthemen sind die Wahrnehmung jüdischer Lebenswelten in Deutschland, der Einbezug jüdischer Perspektiven in ein intersektionales Verständnis von Feminismus und die Allianzenbildung zwischen marginalisierten Gruppen und Minderheiten.


>> Dieser Text erschien zuerst in der Ausgabe 08/2020 des JOURNAL FRANKFURT.
 
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28. September 2020, 11.06 Uhr
Laura Cazés
 
 
 
 
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